Lieber Engel,
blaues Licht zuckt in der Nacht. Mein Sohn liegt bewusstlos da. Unsere Wohnung füllt sich langsam mit Menschen. Der Notarzt, Sanitäter. Auf dem Tisch liegt mein Mobiltelefon mit eingeschalteter Stoppuhr. Seit 27 Minuten krampft mein Sohn und ich kann nichts machen, damit es aufhört. Status Epilepticus ist inzwischen ein vertrautes Wort für meine Ohren. In meinem Inneren zittert etwas, mit gefasster Stimme gebe ich dem Notarzt eine Auskunft, packe eine Tasche, setze mich auf den Beifahrersitz vom Krankenwagen. „Ein Mundschutz für die Dame,“ der Fahrer hält mir einen Mundschutz hin. Wird das meinem Sohn helfen, huscht ein absurder Gedanke durch den Kopf.
Viele Gedanken beschäftigen mich auf der Fahrt. Viele Fragen quälen mich. Die meisten von ihnen sind kaum auszuhalten, weil die Antwort auf diese Fragen bedeuten würde, dass ich Schuld trage. Schuld daran, dass es meinem Sohn seit Wochen sehr schlecht geht.
Seit vielen Jahren ist die Erkrankung bekannt. Seit vielen Jahren kann ich das Gefühl nicht los werden, die Ärzte sind überfordert. Als Folge fühlen wir uns allein gelassen. Immer wieder raffen wir uns in unserer Hilflosigkeit zusammen und suchen nach Alternativen. Immer wieder keimt Hoffnung auf. Auch Jahre später gibt es keinen entscheidenden Durchbruch.
Bei jedem Krankenhausaufenthalt werde ich mit der Frage konfrontiert, ob das Kind seine Medikamente auch wirklich, aber wirklich regelmäßig nimmt. Langsam begreife ich, es ist kein persönlich gemeinter Angriff. Aus der Sicht der Ärzte und Pfleger gibt es wirklich Eltern, die die Bedürfnisse ihrer Kinder hinten anstellen. Aus diesem Grund muss ich mit diesen Fragen umgehen können, die ich lange Zeit als Vorwurf wahrnehme. Als hätte allein mein falsches Verhalten dazu geführt, dass mein Kind an die Monitore angeschlossen und mit einem Zugang in der Armbeuge auf der Intensivstation liegt. Diese Fragen wirken wie ein Vorschlaghammer. Sie treffen mit hoher Präzision meine wunde Stelle. Ich bin schuld. Und wenn es meinem Kind noch schlechter gehen sollte, werde nur ich verantwortlich dafür sein.
Lieber Engel, Dein Geschenk an mich ist so groß. Es rettet mich vor dem Wahnsinn. Ich darf Dir alles anvertrauen, alle Gedanken, die so schwarz sind, wie die dunkelste stürmische Nacht. Du hältst alles aus. Du tröstest mich nicht, es gibt für mich keinen Trost. Du bleibst einfach an meiner Seite, hörst zu und alles darf sein. Verzweiflung, Zorn, Flüche, Selbsthass. Lange sitzen wir einfach da und schweigen.
„Lange saßen sie dort und hatten es schwer, doch sie hatten es gemeinsam schwer. Und das war ein Trost. Leicht war es trotzdem nicht.“ Astrid Lindgren
Lieber Engel, ich liebe Dich sehr.
(Erzählt von Natalia; eine weitere Geschichte von ihr findest du hier.)
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1 Gedanke zu „Wer hält schwarze Gedanken einer Mutter aus? </br> Erzählung von Natalia“