Es ist Ostersamstag 2020. Die Sonne scheint, es ist der perfekte Tag, um in die Natur zu gehen. Doch meine beiden Jungs sind einer anderen Meinung. Mein 8jähriger Sohn ist besonders uneinsichtig und ich erhöhe den Druck. Bis zum Rhein sind es gerade einmal 10 Minuten zu Fuß, das schaffen wir doch! Irgendwann sind wir tatsächlich bei den Enten. Sie freuen sich über das mitgebrachte Brot und wir genießen ihren Anblick und die Gesellschaft. Seit zwei Wochen sind meine beiden Söhne und ich alleine in der Wohnung und haben nur uns zum Spielen, Sprechen, Streiten. Das Festmahl für die Enten ist vorbei, der 8jährige Sohn ist sehr ungeduldig, wieder nach Hause zu kommen. In der Wohnung lässt er sich im Kinderzimmer auf dem Fußboden nieder, eine Schachtel mit seinem Lieblingspuzzle in der Hand. Im nächsten Moment ist sein ganzer Körper von einem gewaltigen Krampf erfasst. Er schlägt aus aller Kraft um sich, ich habe große Mühe, ihn zu halten. Mein elfjähriger Sohn kniet neben mir, spricht mit seinem bewusstlosen Bruder, tröstet ihn, streichelt zärtlich über seine Wange: Er glüht ja richtig!
Die Krämpfe begleiten meinen Sohn seit vielen Jahren. Natürlich liegt ein Notfallmedikament im Küchenschrank bereit. Trotzdem ist die Unruhe gross. Heute hilft auch das Notfallmedikament nicht, mein Kind wird vom Krankenwagen abgeholt und ich zerreiße mich 24 Stunden zwischen zwei Kindern, das eine auf der Intensivstation, das andere zu Hause.
Am Ostermontag sind wir wieder vereint und zu Hause. Mein Leidensdruck ist groß und ich schreibe viele Menschen per WhatsApp an, erzähle von meinem „perfekten“ Osterfest. Die Rückmeldungen sind spärlich, einige wissen nicht, was ein epileptischer Status ist. Einige legen großen Optimismus an den Tag und freuen sich, dass ich wieder daheim bin. Ende gut, alles gut! Ich bin enttäuscht, aber nicht übermäßig. In den letzten Jahren habe ich viele Erfahrungen gesammelt und bin nach und nach mehr oder weniger verstummt. Zu oft hatte ich das Gefühl, die Schattenseite vom meinem Dasein sei nicht erwünscht. So habe ich mich angepasst und nur noch meine lichtvolle Seite gezeigt.
Zehn Tage später erreicht mich noch eine Nachricht. Die Frau entschuldigt sich, sie habe mit Homeschooling, Wohnungsrenovierung etc. alle Hände voll zu tun. Das fühlt sich plötzlich wie ein Schlag in die Magengrube an.
Es schmerzte. Es schmerzte sehr. Bis ein Engel kam und weinte, weil ich es schwer hatte. Ich habe den Engel getröstet, er solle nicht weinen. Nicht wegen mir, nicht deswegen! Der Engel fragte, ob es nicht richtig sei, zu weinen, wenn einer es schwer hat. Meine Antwort kam sehr schnell. Natürlich weine ich, wenn jemand traurig oder verletzt ist. Ich fühle mit, ich möchte den Menschen halten in seinem Schmerz und Kummer. Doch ich weine nie, wenn ein bewusstloses Kind in meinen Armen liegt, wenn mein Herz vor Schmerz zerspringt. Der Engel fragte noch, ob es nicht in Ordnung sei, mit sich selbst Mitgefühl zu haben. Ich war von dieser Perspektive überrascht und uneinsichtig. Bis ich am nächsten Morgen in aller Früh erwachte und helle Tränen vergoss. Heilsame Tränen des Mitgefühls mit mir selbst.
Ich bin mir sicher, das Gesicht des Engels erhellte ein zartes Lächeln beim Anblick von diesen Tränen.
Lieber Engel, ich habe ein zärtliches Gefühl…
(Erzählt von Natalia)
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1 Gedanke zu „Ich habe ein zärtliches Gefühl .. <br/>Erzählung von Natalia“