Das allergrößte Geschenk meiner Trauer: Dankbarkeit

Vor einer Weile habe ich über die Zeit als größtes Geschenk meiner Trauer geschrieben. Heute möchte ich über ein vielleicht noch größeres Geschenk – wenn man das überhaupt in eine Reihenfolge bringen möchte – meiner Trauer schreiben: die Dankbarkeit.

Ich habe schon ganz zu Beginn meines Blogs einen kleinen Artikel darüber geschrieben, finde aber, es kann gar nicht genug darüber geschrieben und gesprochen werden. Dankbarkeit war und ist für mich der entscheidende Faktor, um an der Weggabelung zwischen Verbitterung und neuer Lebensfreude letzteren Weg einzuschlagen – immer wieder aufs Neue.

Dabei war Dankbarkeit früher gar nicht in meinem aktiven Wortschatz vorhanden. Ich habe vielleicht gesagt, dass ich mich über etwas freue oder dass es schön ist, etwas zu haben. Aber richtig dankbar, so tief aus dem Herzen, war ich selten bis nie. Dann kam Julians Tod. Dieser Schrecken, diese Plötzlichkeit, dieser große Verlust. Inmitten von dieser Dunkelheit durfte ein Funken Dankbarkeit entstehen. So war ich dankbar für die Hilfe und menschliche Nähe, die ich in Nepal erfahren durfte. Ich war dankbar dafür, dass ich nicht ganz alleine war, dass auch aus Deutschland so viele Nachrichten kamen und so viele gute Gedanken und Mitgefühl. Neben dem Schmerz darüber und der Wut über die Ungerechtigkeit, dass ich nicht mit Julian alt werden durfte, mischte sich dann auch später immer wieder die Dankbarkeit darüber, dass ich diesen so wunderbaren Menschen in meinem Leben haben durfte, dass er mein Leben so bereichert hatte und auch darüber, dass er es auf neue Art weiterhin bereichert.

So kam sie auf eine Art ganz von alleine angeschlichen und verschaffte mir Erleichterung in einer so schmerzhaften Zeit. Irgendwann habe ich bemerkt, was für ein wertvolles Geschenk und wunderbares Gefühl sie ist. Ich fing an, bewusster wahrzunehmen wofür ich dankbar bin. Dazu gehören auch ganz kleine Dinge wie dass ich täglich zu Essen habe oder ein warmes Bett, dass wir hier in Deutschland Heizungen haben und in meinem Garten Schnittlauch wächst – einfach so.

Ich fing an, abends in ein Buch zu schreiben, wofür ich an diesem Tag dankbar war. Manchmal waren es nur ganz wenige kleine Dinge, die ich irgendwie aus mir herausquetschen konnte – aber egal wie wenig es war, immer fiel mir doch etwas ein, auch wenn sich der Tag noch so schrecklich angefühlt hatte.

Ich fing an, die Welt Stück für Stück mit anderen Augen zu sehen. Was früher für mich selbstverständlich war, nahm ich auf einmal ganz anders wahr. Die Menschen in meinem Umfeld, die Natur, mein Zuhause und die Sachen, die ich besitze. Manchmal gelingt es mir sogar, dankbar für die scheinbar negativen Dinge zu sein. Für Menschen vielleicht, von denen ich mich verletzt fühle. Das alles gehört zu meinem Leben und ich bin dankbar für die Möglichkeiten, tiefer einzutauchen, näher zu mir selbst zu finden und mein Leben zu leben mit allem, was dazu gehört.

Es lohnt sich, dieser Dankbarkeit mehr Raum zu geben – zunächst vielleicht ein wenig künstlich und irgendwann dann auf ganz natürliche Art und Weise. So ist es in schwierigen Zeiten schwerer, sich der Dankbarkeit zu widmen als in Zeiten, in denen viel mehr Dinge passieren, die uns gut tun. Vielleicht liest du diese Zeilen und merkst, dass sich bei dir nicht so einfach Dankbarkeit einstellt, weil der Schmerz über deinen Verlust so groß ist und weil vor allem die Ungerechtigkeit darüber im Vordergrund steht. Das ist okay und ganz normal. Die Dankbarkeit kommt nicht immer von alleine, aber wir können selbst etwas tun, um sie in unser Leben einzuladen. Auch das wird nicht jeden Tag gelingen, aber ich bin mir sicher, dass es etwas bei dir verändern wird.

Ich möchte dir deshalb heute zwei ganz konkrete Impulse mitgeben, um deine Dankbarkeit zu üben und zu praktizieren: 

Die erste Übung habe ich schon erwähnt: Schreibe jeden Tag in ein schönes Buch, auf Papier oder in ein Word-Dokument, wofür du heute dankbar bist. Ich habe zunächst damit begonnen, dies abends zu tun und aufzuschreiben, was an dem Tag gut war. Das können wie gesagt ganz banale Dinge sein. Anfangs war es bei mir oft Essen, etwas leckeres, das ich mir gegönnt hatte. Oder eben ganz banal, dass ich wieder einen Tag geschafft hatte und dass ich immer noch existierte, immer noch ein Dach über dem Kopf hatte. Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, diese Übung morgens direkt nach dem Aufwachen zu machen und ich habe für mich festgestellt, dass sich das noch um einiges besser anfühlt. So starte ich den Tag nicht mit negativen Gedanken, sondern direkt mit dem Fokus darauf, wofür ich dankbar bin. Das gibt mir ein gutes Gefühl für den Start in meinen Tag. Ich bin erstaunt, wie viel da jeden Morgen aus mir heraus in mein kleines Büchlein fließt. Dieses Buch liegt immer neben meinem Bett, so dass es ganz einfach ist, es mir jeden Morgen vor dem Aufstehen zu nehmen und etwas reinzuschreiben. Es ist hilfreich, die Dinge, für die du dankbar bist, auch wirklich aufzuschreiben und nicht nur zu denken. Dadurch entstehen manchmal ganz neue Gedanken, ich bin zum Teil echt überrascht, was ich da von mir selbst lese. Und es ist einfach auch schön, später in dem Buch blättern zu können und zu merken: Da sind ganz viele Dinge, für die ich dankbar bin. Du musst dir natürlich nicht jeden Tag etwas neues ausdenken. Einige Dinge schreibe ich immer wieder, weil ich einfach immer wieder aufs Neue dankbar dafür bin.

Die zweite Übung ist gar nicht so anders als die erste, aber sie beinhaltet etwas ganz wichtiges: Unterstützung bei deiner Dankbarkeitsübung. Besonders am Anfang ist es sehr schwer, diese Übung beizubehalten – zumindest habe ich es selbst so erlebt. Ich bin immer wieder ganz motiviert damit gestartet, aber sobald ein Tag kam, an dem es mir besonders schlecht ging, an dem die Trauer besonders tiefschwarz schien, da habe ich es nicht weiter durchgehalten. An solchen Tagen schien es mir dann einfach sinnlos, überhaupt mit der Übung zu beginnen, schließlich würde es doch sowieso nichts geben, wofür ich dankbar sein könnte. Was mir dabei geholfen hat, war, dass ich mich mit einer Freundin zusammengetan habe. Wir stellten fest, dass wir das gleiche Problem haben: Immer wenn es uns schlecht ging, „vergaßen“ wir scheinbar all die hilfreichen Übungen und Methoden, die wir uns in besseren Phasen angeeignet hatten. Dann versanken wir in unseren Löchern und kamen nicht so einfach wieder heraus. Wir beschlossen also, uns gegenseitig daran zu erinnern und starteten unser tägliches kleines Ritual. Jeden Abend erzählen wir uns gegenseitig, was heute an diesem Tag gut war. Wir machen das jetzt seit einem Dreivierteljahr und es gab noch keinen einzigen Tag, an dem wirklich überhaupt gar nichts gut war. Diese kleine gemeinsame Übung beinhaltet so viel: Bereits im Verlauf des Tages haben wir begonnen, gute Dinge zu „sammeln“, damit wir der anderen jeweils abends etwas berichten können. Ich bin schon immer ganz gespannt, was es wohl bei ihr ist und so kommt zu meiner eigenen Dankbarkeit auch noch das wunderbare Gefühl der Mitfreude hinzu, wenn ich ihre guten Dinge des Tages lese. Es ist so einfach und so wirksam. Es muss wirklich gar nicht kompliziert sein und kostet kaum Zeit. Wir schreiben uns jeden Abend eine kleine WhatsApp-Nachricht mit den guten Dingen, die wir im Laufe des Tages gesammelt haben.

Und jetzt kommst du: Sprechen dich meine kleinen Rituale an? Hast du vielleicht selbst schon welche, die du hier gerne teilen möchtest? Und vor allem: Für was bist du heute, hier und jetzt, dankbar? Ich freue mich auf deine Kommentare!

Foto: Pixabay

4 Gedanken zu „Das allergrößte Geschenk meiner Trauer: Dankbarkeit“

  1. Hallo Silke,
    vielen Dank für diesen tollen Artikel! Bitterkeit ist bei mir immer wieder ein Thema gewesen als ich arbeitslos war. Da habe ich dann auch gemerkt, dass man sich tatsächlich entscheiden kann sich auf die positiven Sachen zu konzentrieren. Wir können nicht die Umstände ändern, aber unsere Sicht auf sie. Das sagt sich immer so leicht, wenn es einem gut geht, aber ich weiß selbst, dass das im Loch schwierig ist.

    Ich habe mir angewöhnt in meiner Mittagspause kurz drei Sachen zu überlegen, wofür ich gerade jetzt in diesem Moment dankbar bin. Dazu habe ich mir eine Erinnerung auf dem Handy gemacht, sodass ich es nicht vergesse. Auch wenn es nur eine kleine Übung ist, die wenig Zeit in Anspruch nimmt, finde ich es erstaunlich, wie sehr sie manchmal meine Stimmung verändert und mir hilft auch schwierige Aufgaben enthusiastischer anzupacken. Dankbarkeit möchte ich nun auch nicht mehr missen!

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    • Hallo Jenny,
      Wie schön, dass du die Dankbarkeit ebenfalls für dich entdeckt hast!
      Das ist wirklich eine schön, kleine Übung, die schon so einen großen Unterschied macht. Danke, dass du sie hier teilst!
      Ganz herzliche Grüße
      Silke

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  2. Ich kenne so ein ähnliches Ritual mit (Kaffee)bohnen. Ich muss allerdings sagen, dass ich das mit den Bohnen nicht durchziehen/durch“halten“ konnte oder vielleicht auch wollte.

    Morgens kann ich 5 Kaffeebohnen in meine linke Hosentasche stecken. Wenn irgendwas schönes passiert, für das ich dankbar bin (oder mich glücklich gemacht hat…oder…oder wie man es auch nennen mag), kann ich eine Bohne in die andere Hosentasche stecken.
    Abends sind vielleicht alle 5 Bohnen in der anderen Tasche. Vielleicht auch nur eine, aber an der kann ich mich trotzdem erfreuen; spätestens wenn ich alle 5 Bohnen wieder in die „Anfangstasche“ stecke (Oder ich stecke sie in ein extra Gefäß und sammle alle Glücksbohnen und packe immer wieder 5 neue „Startbohnen“ ein – und nach einem Monat kann ich eine ganze Kaffeegesellschaft mit den Bohnen beglücken…).
    Und wer sich unter Druck gesetzt fühlt „DU MUSST JETZT DANKBAR SEIN, DA SIND 5 BOHNEN, DIE DARAUF WARTEN!“, der kann es ja mit 3 Bohnen testen.

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    • Ohja, das ist auch ein echt schönes Ritual, danke für deinen Kommentar und die schöne Idee! Voll schön, dass hier so viele Dankbarkeits-Übungen und -Rituale zusammenkommen .. Wobei ich auch zugeben muss, dass ich das zwar schon gehört, aber dann doch nie selbst echt gemacht habe. Irgendwie scheine ich nicht so gerne Kaffeebohnen in der Hose zu haben. Die Idee mit dem Gefäß mag ich und dabei fällt mir ein, dass ich eigentlich dieses Jahr die täglichen „Was war gut“-Dinge nicht nur per WhatsApp, sondern auch auf Zettelchen sammeln und dann am nächsten Silvester wieder anschauen oder ein kleines Ritual draus machen wollte. Na, vielleicht nächstes Jahr 🙂

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