Das größte Geschenk meiner Trauer: Zeit

Zeit ist ein rares Gut in unserer Gesellschaft. Wer hat heute schon Zeit? Alles ist verplant. Der Arbeitstag vollgestopft mit Meetings und dringenden Deadlines, 50 Stunden die Woche, jeder Abend mit einer anderen Aktivität verplant und am Wochenende wird schnell alles andere erledigt, einkaufen, putzen, Steuererklärung. Irgendwie gibt es auch ein gutes Gefühl oder zumindest das Gefühl, alles richtig zu machen, wenn man so beschäftigt ist wie alle anderen.

Bereits vor Julians Tod hatte ich das Bedürfnis etwas anders zu machen. Gelungen ist es mir nur sehr bedingt. Nach drei Jahren stressigem Consulting-Job kündigte ich und reiste ein halbes Jahr durch Asien und Neuseeland. Danach machte ich mich selbstständig mit dem Ziel, nur vier Tage die Woche zu arbeiten und längere Reisen machen zu können. Schließlich bin ich dann noch mal in einer Festanstellung mit vielen Überstunden gelandet. In dieser Zeit habe ich immer mal wieder den Kopf rausgestreckt und gefühlt, wie es anders sein könnte, ich war aber doch gefangen in dem Gefühl, nie genug zu tun, nie genug Zeit zu haben. Zwar wollte ich gerne mehr Zeit für wirklich wichtige Dinge haben, die Arbeit im Büro musste aber schließlich auch erledigt werden.

Dann starb Julian und von einer Sekunde auf die andere zerbrach meine Welt. Anfangs habe ich versucht, möglichst so weiterzumachen wie vorher. Ich wollte stark sein, funktionieren und ich wollte keine weiteren Veränderungen, zu schlimm war diese eine, die mir aufgezwungen wurde. Die Arbeit wurde zur Qual für mich. Ich hielt die Belanglosigkeit der Aufgaben und Themen – für die ich vor Julians Tod noch brannte – nicht mehr aus. Ich konnte die Gespräche über schöne Urlaube, lustige Wochenend-Aktivitäten und oberflächlichen Smalltalk nicht mehr ertragen. Innerlich schrie ich: “Merkt ihr nicht, was ihr hier tut? Merkt ihr nicht, wie dumm und überflüssig das alles ist? Merkt ihr nicht, worum es hier eigentlich geht? Merkt das denn wirklich niemand??”

Ich bereute aus tiefstem Herzen, die kurze Zeit, die ich mit Julian in diesem Leben haben durfte, allzu oft mit Überstunden oder sonstigem Stress vergeudet zu haben. All das war niemals wirklich wichtig gewesen. Ich realisierte, worum es wirklich geht im Leben: Darum, zu leben und Zeit mit den Menschen und Aufgaben zu verbringen, die wir lieben.

Ein Jahr nach Julians Tod kündigte ich meinen Job. Ich realisierte, dass es nicht mein Weg sein würde, wieder zurück in mein altes Leben zu gehen und so zu tun als sei nichts gewesen. Denn so fühlte es sich für mich an: Es war kein Platz für meine Veränderung in diesem Leben, das ich geführt hatte. Für mich gab es kein Zurück.
Ich machte mich auf die Suche nach mir selbst und nach meiner Berufung. Wer bin ich jetzt, wer bin ich wirklich? Und was mache ich hier auf dieser Welt? Wofür möchte ich leben, wie möchte ich leben? Was kann ich dazu beitragen, dass sich etwas ändern kann, wie kann ich andere berühren und ihnen vielleicht sogar helfen?

Das klingt so märchenhaft, wenn ich das hier in wenigen Sätzen schreibe. Natürlich ist es das nicht. Oft habe ich mir gewünscht, einfach ganz “normal” zu sein, zufrieden in einem normalen Job. Ich stolperte von einer Krise in die nächste, durch Zweifel, Ängste, tiefe Erschöpfungsphasen. Meine Ungeduld schrie: “Das kann doch nicht sein, dass du immer noch nicht weißt, was du nun mit deinem Leben anfangen willst!” Ich hatte so viele Ideen, Visionen und zugleich hielt die Trauer mich länger fest in ihrem Griff als ich das erwartet hatte. Meine Vorstellung eines großen, allumfassenden Neuanfangs im zweiten Jahr nach Julians Tod durfte ich langsam verabschieden und stattdessen ganz kleine Schritte gehen.

‚Siehst Du, Momo‘, sagte er, ‚es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang, die kann man niemals schaffen, denkt man.‘
Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort:
‚Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst zu tun, und zum Schluss ist man ganz aus der Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem.
So darf man es nicht machen!‘
Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter:
‚Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst Du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, den nächsten Atemzug, den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur den nächsten.‘
Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte:
‚Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.‘
(Michael Ende – „Momo“)

Während ich lernte, die Langsamkeit einzuladen, mit mir selbst geduldiger zu werden und mir selbst Zeit zu geben, realisierte ich mehr und mehr, was für ein verrücktes Leben ich früher geführt hatte. Wie gehetzt ich gewesen war, wie wenig ich von der Schönheit des Lebens wahrgenommen hatte. Wie selten ich Dinge getan hatte, die mir wirklich am Herzen liegen. Immer gab es mehr zu erreichen, zu tun, zu erleben.

In meinem neuen Leben hatte ich Zeit gewonnen.

Zeit für Spaziergänge ohne Ziel
Zeit, meinen Gedanken zu lauschen
Zeit, einfach nur dazusitzen und vor mich hinzustarren
Zeit zum Trauern, Weinen, verzweifelt Sein
Zeit für kleine und große Erkenntnisse
Zeit für Meditation und Stille
Zeit für ausgiebige Seelengespräche
Zeit zu lesen und zu schreiben
Zeit für Freunde
Zeit zum Fühlen
Zeit zum Sein

Aus dieser Zeit und diesem Raum heraus, der sich für mich öffnete, ist dieser Blog entstanden. Ich bin mir sicher, neben einem stressigen Vollzeitjob hätte ich nur weiter davon geträumt, ihn aber niemals wirklich gestartet. Ich will nun nicht behaupten, dass ich nie mehr gestresst bin. Nach wie vor habe ich oft das Gefühl, nicht genug Zeit zu haben für all das, was ich in die Tat umsetzen und geben möchte. Ich könnte immer mehr machen. Mehr Blogbeiträge pro Woche, schneller auf Emails antworten, schon weiter mit “Dein Tod und ich” sein, schon weiter mit meinem Buch, mehr Menschen helfen und mehr für unser Projekt in Nepal tun. Was ich aber gelernt habe ist, dass es mich nicht weiterbringt, wenn ich mich diesem Zeitdruck ganz hingebe, mich vom Stress einhüllen lasse. Wenn ich nicht immer wieder bewusst innehalte, mich auf mich konzentriere, in meine Mitte gehe und mir selbst Zeit gebe, dann wird das, was ich tue, einfach niemals gut sein.

So wünsche ich mir heute, dass mehr Menschen die Zeit für sich entdecken. Ich wünsche mir, dass “Zeit haben” in unserer Kultur wieder in Mode kommt, dass man weniger das Gefühl haben muss, sich rechtfertigen zu müssen, wenn man sich einfach Zeit für sich nimmt. Dass niemand das Gefühl haben muss, faul zu sein oder unnütz, nur weil er sich an einem Tag unter der Woche einfach treiben lässt.

“Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen.”
(Micheal Ende – “Momo”)

8 Gedanken zu „Das größte Geschenk meiner Trauer: Zeit“

  1. Liebe Silke,
    vielen Dank für diesen Artikel und die Erinnerung daran, immer wieder zu überprüfen ob man seine Prioritäten richtig setzt. Ich bin ein großer Fan von Momo, Kassiopeie und Beppo Straßenkehrer.

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    • Liebe Vera,
      danke dir für deinen Kommentar. Ja, ich glaube, es ist gut, das immer wieder zu überprüfen. Und manchmal auch ganz bewusst die Prioritäten einfach anders setzen.
      Ganz liebe Grüße
      Silke

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  2. Zeit, das wollte ich immer haben. Jetzt habe ich Zeit, doch was ist sie wert? Ohne den Partner, ohne den Menschen, der mich so oft vermisst hat? Die Zeit hat mich betrogen oder noch schlimmer ICH habe mich um die Zeit betrogen. Jetzt ist sie da, aber sie nützt mir nichts. Richtig LEBEN heißt mit allen zur Musik des Lenens im Takt schwingen, AUSHALTEN heißt nicht einsam sein und die Musik wenigstens noch zu hören. Jetzt ist es still, nur still.

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    • Ich wünsche dir, dass du die Stille ertragen kannst und irgendwann… ganz aus der Ferne… die Musik wieder hören kannst.
      Ich glaube, dass diese Stille wichig ist, um unser Bewusstsein zu schärfen. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, aber wir können hier und jetzt etwas für uns selbst ändern.
      Irgendwann wird die Musik für dich wieder lauter werden und dein Fuß wird irgendwann von ganz alleine wippen – ja und wer weiß, dann schwingt irgendwann dein ganzer Körper wieder mit…
      Liebe Grüße,
      Anja

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    • Ich kann mich Anja nur anschließen .. So ein wunderschönes Bild mit der Musik. Auch ich wünsche dir von Herzen, dass du wieder neu lernen kannst, mit der – vielleicht nun veränderten – Musik deines Lebens mitzuschwingen. Versuch dir auch dafür die Zeit zu nehmen. Die Zeit für alle Gefühle, die gerade da sind, die Zeit des nicht im Takt schwingens und die Zeit des aushaltens. Ein Tag nach dem anderen, in kleinen Schritten. Bis irgendwann ganz unbemerkt und sanft das Aushalten zum Annehmen wird und daraus wieder Leben entstehen kann.
      Herzliche Grüße
      Silke

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  3. Liebe Silke,
    ich danke dir für diesen bereichernden Beitrag – ich freue mich sehr, dass du so „unnormal“ bist und uns dadurch diesen Blog hier schenkst ;O)
    Ich kann deinen Gedanken gut folgen und freue mich über die Momo-Zitate… So schön und so wahr… dieses Buch nehme ich wohl kurzfristig mal wieder in die Hand. Das Thema Zeit und wie ich sie für mich nutzen möchte, beschäftigt mich nämlich auch sehr. Seit Andreas‘ Tod ist meine Welt auf den Kopf gestellt. Ich mache zwar weiter in meinem bisherigen Job, fühle aber immer ein „da muss es doch mehr geben“. Ich wünsche mir mehr „Tiefe“ in meinem Leben. Geduld ist nicht meine Stärke, aber ich versuche an dieser Stelle, die Zeit in Ruhe vergehen zu lassen, bis ich klarer sehe, wohin die Reise gehen soll.
    Ich wünsche dir für deinen Weg die nötige Zeit und Geduld – von außen betrachtet machst du alles genau richtig. Zweifel gehören wohl dazu, wenn man sich immer mal wieder gesund reflektiert. Lass dich davon nicht irritieren. Durch deinen Beitrag schaffst du es ja schon ein kleines Stück, dass sich mehr Menschen mit ihrer Zeit beschäftigen ;O)
    Alles Liebe,
    Anja

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    • Liebe Anja,
      danke dir vielmals für deinen lieben Kommentar und dein Feedback. Ja, ich bin eigentlich auch ganz gerne „unnormal“, auch wenn es manchmal anstrengend ist 🙂
      Dieses „das muss es noch mehr geben“ kann ich gut verstehen. Und ich bin mir sicher: Da gibt es auch noch mehr – viel viel mehr. Tiefe und Weite und so viele Möglichkeiten. Ich wünsche dir von Herzen, dass du diese Klarheit Stück für Stück für dich finden kannst. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass es dafür oft Phasen der totalen Verwirrung und des Chaos braucht .. auch wenn es sich in dem Moment nicht so anfühlt und die Ungeduld ganz schnell lieber wieder Klarheit haben will, wenn man das aushält und zulässt, dann kann eine ganz neue, ungekannte Klarheit daraus entstehen.
      Danke dir für deine lieben Wünsche.
      Liebe Grüße
      Silke

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