Wesentlich werden

Was ist wesentlich im Leben? Was ist wesentlich in meinem Leben?

Früher, in meinem alten Leben, hatte ich einen stressigen Job. Ich habe Software entwickelt für Unternehmen und in Meetings nach Wegen gesucht, wie wir schneller, effizienter, besser sein können. In den Teams, in denen ich gearbeitet habe, gehörte es dazu, Überstunden zu machen. Es gab schließlich so viel Arbeit, die getan werden sollte. Und sie hörte niemals auf. Wenn ich nach langen Stunden im Büro nach Hause ging, wusste ich oft nicht, was ich wirklich geschafft hatte. So vieles blieb unerledigt, vieles so abstrakt und wenig greifbar. Damals hat es mich Stück für Stück krank gemacht. Auf eine Art entkoppelt fühlt es sich an, wenn ich diese Zeit aus heutiger Sicht betrachte. Leer und suchend, gestresst ohne zu wissen wofür.

Wofür.

Wofür machte ich diesen Job? Wer hatte wirklich etwas davon? Und wieso waren eigentlich immer alle so überrascht, wenn die ursprünglich viel zu eng geplanten Terminpläne wie immer nicht eingehalten werden konnten? Welche Bedeutung hatte dies wirklich? So für das echte Leben?

Echtes Leben?

Irgendwann realisierte ich, dass im Grunde nichts geschah, wenn ich einfach früher nach Hause ging. Wenn ich bewusst Arbeit liegen ließ und meine Stunden reduzierte. Es ging um nichts. Um nichts Wesentliches. Nicht um Menschen, nicht um Leben oder Tod. Ich wusste nicht mehr, warum wir uns alle dort in diesen Büros so stressten – schließlich starb doch niemand, wenn wir einfach Feierabend machten. Ich will nicht alles im Nachhinein schlecht machen. Ich hatte wundervolle Kollegen und durchaus spannende Aufgaben. Und ich freue mich für jeden, der in diesen Jobs zufrieden sein kann. Ich konnte es nicht und versuchte es trotzdem.

Dann kam Julians Tod. Und stellte endgültig alles in Frage. Zerschmetterte mein Leben, so wie es bis dahin gewesen war. Der Tod sah mir in die Augen und fragte: Was machst du mit deinem Leben? Die Unendlichkeit zeigte sich mir. Ich erfuhr, dass das Leben endlich und ein Teil von uns zugleich endlos ist. Ich tauchte ein in diese Liebe, in dieses überwältigende Einssein, das immer da und doch auch oft so fern ist.

Wofür? Wofür sind wir hier?

Ich tauchte wieder auf und wusste nicht weiter. Wie sollte ich weiterleben? Ohne Julian, mit diesem Schmerz und auch mit dieser neuen Sicht auf die Welt? Wie sollte ich in dieser Welt sein können?

Menschen versuchten, mich zurück ins Leben zu holen. Aber welches Leben sollte das sein?

Erschreckende Belanglosigkeit.

Ich kündigte, nahm mir Zeit für mich, zog mich aus der Welt zurück so weit es ging. Ich fühlte und schrieb und las und schmerzte. Ich suchte und wusste doch manchmal gar nicht wonach. Ich tanzte um das Nichtwissen herum.

Ich fand einen tiefen Frieden mit Julians Tod. Erfuhr, dass alles so sein sollte wie es war. Die Liebe blieb und trug mich weiter.

Ich lernte Neues. Trauerbegleitung. Psychologie. Körpertherapie. Yoga. Achtsamkeit. Reiki. Buddhismus. Schamanismus.

Ich startete diesen Blog und wurde laut. Und sichtbar. Ich schrieb mein erstes Buch und teilte meine Geschichte. Ich fand meine Freude wieder und meine Lebendigkeit. An manchen Tagen sprudelte ich über vor Liebe und Dankbarkeit. Ich fand ins Leben und fand es doch auch nicht. Etwas fehlte, etwas war nicht in Balance. Etwas machte auch Angst. Existentielle Angst. Meine Sichtbarkeit und was sie auslöste. Noch immer wusste ich nicht, wie dieses Leben wirklich gehen sollte. Ich gab und schenkte und verlor doch mich selbst ein Stück in all dem. Ich schrieb mein zweites Buch. Alles war gut und konnte doch auch so nicht weitergehen. Was war der nächste Schritt auf diesem Weg?

Ich zog mich wieder zurück, weit hinein in mich. Etwas in mir heilte weiter. Alles war gut so wie es war. Zu jeder Zeit.

Dann war ich bereit. Bereit für eine neue Aufgabe und sie kam: Bestatterin. Seit Juli darf ich in diese so wertvolle und kostbare Aufgabe hinein wachsen. Und weiter wesentlich werden. Es geht um den Tod. Und dann geht es um das Leben. In der Begegnung mit dem Tod erfahre ich wieder und wieder das Leben. Noch gibt es vor allem viel zu lernen und zugleich erfüllt mich diese Aufgabe bereits jetzt sehr. Sie erdet mich wie ich es vorher nicht erwartet hätte. Menschen sagen mir, es wäre mutig, diesen Job zu machen. Ein schwerer Job wäre es, sagen sie. Und wenn ich erzähle was ich mache, dann sagen sie mir, dass sie das niemals gedacht hätten. Schließlich wirke ich doch so lebendig.

Strahlende Lebendigkeit.

Ja, der natürliche Umgang mit dem Tod als Teil meines Lebens macht mich lebendig. So lebendig wie ich zuvor nicht sein konnte. Ich muss nun nicht mehr mit halb geschlossenen Augen durchs Leben laufen, um nicht aus Versehen doch etwas von diesem Sterben zu erblicken. Ich sehe es bewusst an und akzeptiere, dass es dazu gehört. Ich muss nicht mehr so tun, als wären mir Dinge wichtig, die es nicht sind. Ich darf ganz ich sein. Etwas in mir weitet sich. Ich weite mich hinein in das Leben. Ich sehe hin und ich höre zu. Lausche den Verstorbenen, die mir vom Leben erzählen. Lausche den Angehörigen in ihrem Schmerz, der ihre Liebe zum Ausdruck bringt. Ich begegne Menschen am tiefsten Punkt ihres Lebens. Und am Ende ihres Lebens. Dann bin ich einfach da. Ich möchte Raum geben für das, was ist. Denn es ist so oder so, ob wir es haben wollen oder nicht.

Für mich gibt es nichts Wesentlicheres als das. Leben und Tod, ein ewiger Tanz. Langsam lerne ich seine Schritte.

Was ist für dich wesentlich im Leben? Was hat der Tod dir erzählt, als du ihm begegnet bist?

4 Gedanken zu „Wesentlich werden“

  1. Ich verstehe immer tiefer, dass für mich das Wesentliche die Wesen sind. Die Verbindung zwischen 2 Menschen oder zwischen Mensch und Tier neben der kognitiven Ebene auch bewusst zu fühlen zwischen Wesenskern und Wesenskern. Dort wo es keine Bewertung gibt. Dort wo die allererste Verbindung sowieso immer stattfindet.

    Ich empfinde das als das Tor des Herzens.

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  2. Ich werde seinen Tanz nicht lernen, denn ich musste zusehen wie er arbeitet. Das erste was der Tod zu mir gesagt hat? „Hier schau her was ich mache, Du kannst nichts daran ändern.“. Und dann hat er noch meine Gedanken aufgerüttelt. Wie schnell sind doch die gemeinsamen Jahre vergangen. Haben wir sie zusammen sinnvoll genutzt? Im Ganzen kann ich sagen, Ja.
    Das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen, mein ganzes Leben lang habe ich es versucht. Er hat mir gesagt das es mir nicht immer gelungen ist, ich mich viel zu oft mit Nebensächlichkeiten aufgehalten habe. Dazu gehört auch viel zu viel arbeiten. Dazu gehört auch die Energie die man in vermeintliche Freundschaften investiert hat, die dann ganz plötzlich verschwunden waren.
    Aber eigentlich musste er mir das nicht erst am Ende sagen. In den letzten gemeinsamen zehn Monaten habe ich besonders erfahren, dass es nichts wichtigeres gibt wie Liebe, Vertrauen und Zärtlichkeit.
    Vielleicht hat er, der Tod, etwas damit zu tun denn er hat uns die Endlichkeit des Lebens aufgezeigt.
    Obwohl er schon bei unserer Geburt an unserem Bett steht beachtet man ihn nicht. Man schaut erst genauer hin wenn es schon zu spät ist.
    Der Tod hat versucht mich für immer aus der Bahn zu werfen. Hat er fast geschafft! Fast, denn heute bin ich wieder offen für das Leben. Dank der Liebe zu meiner Frau in meinem Herzen.

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    • Es berührt mich so sehr, deine Worte zu lesen, lieber Andreas. Es erfreut mein Herz, dass der Tod es nicht geschafft hat, dich endgültig aus der Bahn zu werfen. Sondern im Gegenteil dich vielleicht auf eine noch tiefere Art und Weise mitten in deine Liebe gestellt hat. ♥

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