Wenn alles zerbricht

Es gibt Zeiten im Leben, in denen alles zerbricht. Auf einen Schlag und nach und nach. Auf einen Schlag nimmt der Tod einen der liebsten Menschen, eine Krankheit versehrt unseren Körper, eine Trennung zerstört die Familie. Das Schicksal schlägt in unser Leben ein. Und nach und nach bricht alles weg. Freundschaften, Beziehungen, Arbeit, Zuhause, eigene Fähigkeiten, alles, was uns ausgemacht hat.

In diesen Zeiten werden wir gnadenlos und mit voller Wucht auf uns selbst geworfen.

Einsamkeit. Verzweiflung. Bodenlosigkeit. Tiefe Abgründe.

Wo finden wir Halt, wenn nichts mehr da ist? Wenn nichts mehr ist wie es war? Wenn wir uns selbst nicht mehr erkennen?

Es ist ein tiefer Abgrund und zugleich ein Tor, das sich in uns öffnet. Ein Tor, das uns einlädt, uns wahrhaftig selbst zu begegnen. So viele Jahre haben wir schon mit uns selbst hier auf dieser Erde verbracht und doch vielleicht noch nie wirklich hingesehen. Wirklich begriffen, erfahren, durchdrungen, wer wir eigentlich sind.

Ich will den Abgrund nicht schönreden. Ich weiß noch, wie es sich angefühlt hat als er sich in mir auftat und drohte, alles zu verschlingen. Das Gefühl der Panik vor dieser tiefen Dunkelheit, vor diesem Schmerz und dem Nichts. Eben war noch alles irgendwie geordnet, nicht immer alles gut aber doch so wie es sein sollte. Und dann dieses steil bergab gehende Nichts in meinem Inneren. Ich wollte wegrennen, aber ich konnte nicht. Ich wollte es zupflastern, notdürftig verkleben, so weitermachen wie vorher, aber es ging nicht.

Was dann? Was wenn wir an diesem inneren Abgrund stehen und nichts und niemand uns helfen kann? Was wenn niemand mit uns dort stehen bleiben kann? Und erst recht niemand mit hinein geht? Was wenn wir keine Wahl haben als selbst hindurch zu gehen?

Ich will nicht behaupten, dass ich völlig allein gelassen war. Es ist wichtig, dass wir uns den ein oder anderen Halt im Außen suchen. Es ist wichtig, im eigenen Tempo zu gehen. Schrittchen für Schrittchen.

Und doch. An unserem eigenen inneren Abgrund stehen wir alleine.

Tiefe Einsamkeit.

Und dann ist da dieses Tor. Völlig unerwartet inmitten des schwarzen Nichts. Ein Tor zu uns selbst. Zu unserem Warum. Zu unserem „Wer ich wirklich bin“.

Tiefe Wahrheit.

Meine Erfahrung ist, dass wir dieses Tor nicht einmal durchschreiten und dahinter für immer wissen, wer wir sind. Es ist ein Tor und es sind mehrere Tore zugleich. Wenn ich heute weiß, wer ich bin, kann ich morgen schon wieder nichts wissen. Nur um noch tiefer zu sinken, noch tiefer zu tauchen, noch tiefer zu begreifen. Noch ein wenig mehr zu erinnern. Alles ist schon immer da.

Das ist es auch, wovon all die großen Meister und Meisterinnen sprechen. Die Leere, die alles enthält. Das Göttliche in uns. Das wahre Selbst.

So begreife ich Julians Tod und das, was danach kam, als eine Initiation. Schmerzhaft, zerschmetternd, neu zusammensetzend.

Auch mich neu in Beziehung setzend.

Beziehung zu mir selbst, zu den anderen, zur Welt, zu allem was ist. Ich ein Teil von allem und alles ein Teil von mir.

Tiefe Verbundenheit.

Für mich geht es nicht anders als durch diese tiefen Tiefen hindurch. Ich habe nur diesen Weg gefunden. Eine Tiefe, die schwer ist. Eine Schwere, die trägt, verankert. Eine Leichtigkeit, die aus der Schwere erwächst.

Ich kann nicht für dich durch deine Abgründe gehen. Ich kann dir nur von meinem Weg hindurch erzählen. Ich kann hier oben stehen und dir sagen, dass es geht. Ich kann dir nicht genau sagen wie, weil dein Weg nicht meiner ist. Aber ich kann dir die Hand reichen. Ich sehe dich in deinem Schmerz, deiner Einsamkeit und deiner verzweifelten Suche. Ich sehe dich. Inmitten deiner Einsamkeit bist du nicht alleine.

4 Gedanken zu „Wenn alles zerbricht“

  1. Sehr schöner Artikel. 🙂 Ich find es so schwierig, wenn man in dieser Zeit so viel Wut auf sich selbst und Scham hat. Das macht es für mich momentan so schwer.

    Antworten
    • Wut und Scham sind ganz schwer zu fühlende Gefühle. Und doch ist es so wichtig, dass sie da sein dürfen, gefühlt und ausgedrückt werden. So habe ich es mit sämtlichen Gefühlen immer wieder erlebt. Ich wünsche dir von Herzen ganz viel Kraft dafür, liebe Lina.

      Antworten
  2. Danke für diesen Beitrag. Meine eigene Frau ist vorgestern ihrem Krebsleiden erlegen. Ich bin jetzt 38 Jahre alt. Wir waren 18 Jahre ein Paar. Sie hat mein Leben mit Liebe, Wärme und Sinn erfüllt. Und jetzt ist sie nicht mehr da und ich stehe auch an diesem Abgrund. Momentan ist der Verlust noch zu frisch und ich kann ihn noch nicht richtig greifen. Nur einmal am Todestag saß ich alleine mit ihrem kalten Körper und der Schmerz bahnte sich seinen Weg mit voller Wucht. Ich wollte einfach nur sterben. Jetzt ist der Verlust wieder entrückt und ich laufe wie betäubt durch das Leben. Aber erst ist da, wie ein Raubtier, das darauf wartet, im richtigen Moment zuzuschlagen.

    Antworten
    • Das tut mir sehr leid, lieber Matthias, dass du diesen Verlust gerade erleben musst. Ich wünsche dir nun erst einmal ganz viel Kraft und unterstützende Menschen an deiner Seite. Und dass du dir selbst ganz viel Zeit geben kannst, so viel wie du brauchst. Möge die Liebe zu deiner Frau immer in deinem Herzen sein.

      Antworten

Schreibe einen Kommentar