In meiner Arbeit als Bestatterin begegnen mir sehr viele verstorbene Menschen. Ich hole sie in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Hospizen und manchmal zuhause ab. Ich kleide sie ein und bette sie in ihre Särge. Ich helfe bei der Vorbereitung für Abschiednahmen und bin auch selbst manchmal mit dabei. Manchmal sehe ich ihren Sarg in den Ofen im Krematorium fahren. Ich spreche mit ihren Angehörigen über sie, helfe bei der Planung der Trauerfeier und bin dann auch dort anwesend. Manchmal spreche ich ein paar Worte und ab und zu bin ich diejenige, die am Ende ihr Grab schließt.
Viel habe ich bereits über Trauer geschrieben und darüber, was die Menschen, die in diesem Leben zurückbleiben, brauchen, um mit Verlusten umzugehen. In letzter Zeit stelle ich mir immer häufiger die Frage, was es denn ist, das die Verstorbenen eigentlich von uns brauchen. Gibt es da überhaupt etwas? Und wenn ja, kann man es dann allgemein für alle Verstorbenen sagen oder bleiben sie nicht viel eher genau so individuell wie sie lebend bereits waren?
Wie also gehen wir dann mit ihnen um?
Es scheint viele Antworten auf diese Frage zu geben. Nach Julians Tod durfte ich in Nepal erleben, wie im tibetischen Buddhismus darüber gedacht wird. Vor der Verbrennung seines Körpers haben Mönche für ihn gebetet und ihm dabei erklärt, dass er jetzt tot ist, was das bedeutet und wo er sich nun befindet. Das machen sie, damit er bei klarem Bewusstsein und aus einem ruhigen Geist heraus in seine nächste Wiedergeburt gehen kann. Im christlichen Glauben wird der Verstorbene gesegnet, in Gottes Hände gegeben und für das Wohl seiner Seele wird gebetet. Aus verschiedenen spirituellen Richtungen höre ich immer wieder, dass es sein könne, dass Verstorbene durch die Trauer der Hinterbliebenen am Weitergehen gehindert werden. In einigen Traditionen heißt es, dass die Seelen mancher Verstorbener ins Licht begleitet werden müssen, weil sie aus verschiedenen Gründen noch hier in unserer Welt sozusagen festhängen können.
Dann heißt es wiederum, dass dort, wo wir nach dem Tod hingehen, alles in Licht und bedingungsloser Liebe existiert und wir von unseren Liebsten dort empfangen werden. Es heißt auch, dass es dort Raum und Zeit nicht gibt, dass alles gleichzeitig geschieht und die Seelen überall zugleich sein können. Unsere physikalischen Gesetze gelten für die Verstorbenen nicht mehr. In vielen Kulturen werden die Ahnen verehrt und der Kontakt zu ihnen aufrecht gehalten. Und schließlich gibt es auch die Vorstellung, dass nach dem Tod einfach sowieso gar nichts mehr ist, dass es nichts gibt, das weiter existiert und es somit auch völlig egal ist, was mit dem Körper geschieht.
Das sind nur einige der Ideen, die ich kenne. Wenn ich in meiner Arbeit dann den Toten begegne, dann kommt in mir häufig der Impuls, auch für sie, für ihre Seelen etwas tun zu wollen. Manchmal passiert das ganz automatisch, weil ein Kontakt entsteht. Und doch habe ich das Gefühl, dass ich eigentlich die falsche Person bin. Eine fremde Frau, die meint zu erahnen, was dieser verstorbene Mensch gerade brauchen könnte. Aus Sicht der Verstorbenen sind in dieser Zeit überall fremde Menschen, die mal mehr mal weniger liebevoll erledigen, was eben erledigt werden muss, damit ihr toter Körper zu seiner letzten Ruhestätte gelangt.
Wie wäre es, wenn die Menschen, die einen Bezug zu der verstorbenen Person haben, auf diesen letzten Wegen dabei wären?
Wie würden wir dann mit ihnen umgehen? Wie wäre es, wenn sich mehr Menschen trauen würden, da hinzusehen, überhaupt mal zu erfahren, wie es gerade ist? Wie wäre es, wenn wir uns bereits vor unserem Tod Gedanken darüber machen würden, was wir uns danach für unsere Seele wünschen? Wer soll da sein, sollen Gebete gesprochen oder Texte vorgelesen werden? Was wünscht sich meine Seele, wenn sie von dieser in eine andere Existenz übergeht? Was würde ich gerne bei meiner eigenen Trauerfeier erleben, wenn ich „von oben“ dabei zusehe?
Wenn ich so hinter die Kulissen unserer Gesellschaft schaue, sozusagen im „Backstage des Lebens“ arbeite, dann denke ich oft, dass es wirklich viel über unsere Kultur aussagt, wie wir mit dem Tod und damit auch mit unseren Verstorbenen umgehen. Und ich frage mich, was es wohl für Auswirkungen hat, wenn wir uns auf Dauer davon abschneiden, wenn wir uns nur auf das beziehen, was wir anfassen oder wenigstens sehen können. Wohin führt das in einer Gesellschaft, die ihren Bezug zur Spiritualität, ihre Anbindung an das große Ganze verloren hat? Und was bedeutet das dann auch für das Leben, das wir führen, für die Art und Weise, in der wir hier als Gemeinschaft zusammen leben?
Ich maße mir nicht an zu wissen, wie es „richtig“ geht. Aber ich möchte zum Nachdenken einladen, zum Hinsehen und darüber reden, damit wir als Gesellschaft und jeder ganz individuell überhaupt die Möglichkeit haben, selbst zu bestimmen, was für uns in dieser Zeit wahr ist und wie wir mit unseren Toten umgehen wollen.
Wie siehst du das? Was würdest du dir für dich selbst und für deine Liebsten wünschen? Welche Erfahrungen hast du bisher gemacht?
Was glaubst du, brauchen die Verstorbenen von uns?