Im März waren es zehn Jahre seit Julians Tod in Nepal. Und ich habe noch gar nichts darüber geschrieben. Das ist mir gestern, auf der Messe „Leben und Tod“ in Bremen, bewusst geworden. Weil so viele Erinnerungen durch mich schwirrten an meinen letzten Besuch dort. Der war vor fünf Jahren gewesen, zur Halbzeit dieses irren Jahrzehnts.
Irre war es wirklich in vielerlei Hinsicht. 2013 hätte ich mir nicht vorstellen können, dass einmal 2023 werden könnte. Zehn Jahre in die Zukunft, so weit konnte ich gar nicht denken. So hatte in den ersten Jahren alles einen gewissen Druck in mir. Denn ich hatte ja keine Zeit mehr, es gab nur noch das akute Jetzt, das Leben war endlich und potentiell morgen vorbei. Erst war es ein Jetzt, in dem es galt zu überleben. Einen winzigen Schritt nach dem anderen. Existieren. Mehr nicht. Dann irgendwann ein Jetzt, in dem ich mich neu erfinden wollte. Ich war ja wieder da, hatte die schlimmsten Schmerzen durchwandert und viel altes Leben abgeschüttelt. Nun musste neues Leben her. Und es war schon da, aber es musste auch schnell gehen. Schließlich brauchte ich eine neue Identität. Einen Platz im Leben. Einen Sinn.
Wie anstrengend diese Zeit gewesen ist, das hat mich in diesem Jahr noch einmal rückblickend mit mir selbst mitfühlend beschäftigt. Und auch, wie sehr diese Zeit vorbei ist. Die alten Geschichten sind zur Genüge erzählt, neue sind dran. Es liegt wohl auch daran, dass sich ebenfalls ein Jahrzehnt meiner Lebenszeit vollendet hat. Jetzt, in meinen 40ern, geht es um andere Themen als in meinen 30ern.
So schließe ich nun ganz bewusst dieses Buch meiner 30er Jahre. Voller Dankbarkeit für so vieles, was in diesem Jahrzehnt zu mir gekommen ist. Und das, was ich selbst bewegen durfte. Voller Anerkennung für die, die ich war, für die Wege, die ich gegangen bin. An manchen Stellen ein bisschen wehmütig über verpasste Chancen, vermasselte Beziehungen, ungesagte Worte, ungeschickte Geh-Versuche.
Das Buch meiner 40er Jahre liegt noch fast ganz unbeschrieben vor mir. Ich frage mich nicht nur, was es bringen wird, sondern auch wie ich die Seiten selbst gestalten möchte. Welche Aufgaben rufen und welche ich annehmen werde. Es ist eine andere, neue Zeit. Eine, in der Größe sein darf.
„In lauter Trauer“ bleibt auf eine Art Teil davon, auch wenn sich der ursprüngliche Zweck meines Blogs bereits vollendet hat. Meine Trauer um Julian ist geteilt, erzählt, zu Ende gesprochen. Frieden. Ein weiteres, geweitetes Trauer-Verständnis und die Vision, dafür einen haltenden Ort zu schaffen, darum wird es in der nächsten Zeit gehen. Ein Ort in lauter Trauer, ein Ort für Trauernde, an dem Menschen ihren eigenen Weg hindurch und darüber hinaus finden können. Der Beginn einer „umgekehrtes Hospiz“-Bewegung: Orte, an denen Menschen darin begleitet werden, wieder zurück in ein neues Leben zu finden. Das wird in den kommenden Jahren eine meiner Aufgaben sein. Ich freue mich schon darauf, euch mit auf diese Reise zu nehmen. Wenn ihr wollt natürlich nur.
Danke an alle, die mitgehen. Manche ein paar Schritte und manche ein paar mehr. Gemeinsam verwandeln wir die Welt in einen neuen Ort.
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Liebe Silke, Danke für diesen sehr berührenden Artikel und dass du uns ein Stück auf deinem Trauerweg mitnimmst. Es dauert einfach, bis man wieder im Leben ankommt und einen Stück vorwärts gehen kann – mit den Wunden, die bleiben. Schön, dass du mithelfen möchtest, dass Thema Trauer mehr in die Gesellschaft zu tragen, um dadurch einen neuen, anderen Umgang zu ermöglichen. Jedes Wort, jeder Artikel, den du schreibst ist ein kleiner Baustein hierzu,
Ich war letztes Jahr als Ausstellerin auf der Leben und Tod in Freiburg. Ich habe dort meine Erinnerungskissen vorgestellt. Es war ein tolles Erlebnis, einige liebe Menschen live zu treffen, mit denen ich virtuell verbunden bin. Liebe Grüße Nicole