Ich glaube ja schon länger nicht mehr an Zufälle. Und so war es auch kein Zufall, dass ich bei den Veranstaltungen mit dem Dalai Lama in Frankfurt vergangene Woche dank meiner Mitarbeit dort inhaltlich kaum etwas mitbekommen habe von dem, was auf der Bühne gesagt wurde – bis auf diese eine Frage aus dem Publikum. Ich saß etwas erschöpft im Pressebereich und es gab gerade nichts zu tun. Also entschied ich mich ganz bewusst, für einige Minuten wirklich zuzuhören. Und dann kam diese Frage: Eine Frau sprach für eine Freundin, deren Sohn krank ist, nur eine kurze Lebensspanne hat und bald sterben wird. Sie bat im Namen der Mutter darum, dass der Dalai Lama für das Kind und die Angehörigen Mantras rezitieren, für sie alle beten möge. Und was antwortete Seine Heiligkeit, wie ihn viele Tibeter und auch Deutsche nennen? Ich habe seine englische Antwort mitgeschrieben und sie frei für dich übersetzt:
Ich kann beten, aber es wird nicht viel helfen. Rezitiere selbst die folgenden beiden Mantras:
Om Tare Tuttare Ture Svaha, das Mantra der Tara, und Om mani padme hum.
Hundert Mal, nein einige hundert Mal am Tag. Gemäß der indischen Tradition besagt unser Glaube, dass unser Karma auf vergangenem Karma basiert. Karma bedeutet Handlung. Im tibetischen Buddhismus gibt es das Konzept der Wiedergeburt, Reinkarnation. Manchmal können wir diese Dinge also nicht verhindern. Es ist natürlich traurig und ich bete. Aber erwarte nicht, dass mein Gebet irgendeinen ernsthaften Effekt hat. (An dieser Stelle lacht er.) Das Beste, was wir tun können, ist selbst meditieren und Mitgefühl praktizieren. (Dalai Lama am 13. September 2017 in Frankfurt)
Ich finde seine Antwort ganz großartig. Auch wenn sie vielleicht im ersten Moment ein wenig hart erscheinen mag. In meinen Augen macht er etwas ganz Entscheidendes: Er belässt die Verantwortung bei der Fragestellerin und damit bei jedem Einzelnen von uns. Er stellt sich nicht über andere, nur weil er „Seine Heiligkeit“ ist. Er behauptet nicht, dass sein Gebet mehr wert sei, dass er irgendetwas für jemand anderes wirklich verändern könne. Denn das kann niemand von uns. Und so erinnert er mich mit seinen Worten daran, dass es auf Dauer nichts bringt, wenn wir die Verantwortung in die Hände von anderen legen, wie heilig oder großartig oder kompetent sie uns auch erscheinen mögen. Umgekehrt ist es ebenso wenig hilfreich, wenn wir als Helfer einem anderen die Verantwortung abnehmen wollen. Wir alle sind für unsere Leben selbst verantwortlich. Jeder für sein eigenes. Es ist eine große Hausaufgabe, die der Dalai Lama da mitgegeben hat. Viele hundert Male am Tag sollen die beiden Mantras gesprochen werden. Für mich geht es dabei noch um mehr: Um die besagte eigene Verantwortung, um den Raum und die Zeit, die wir unserer Trauer und uns selbst geben, um die eigene Auseinandersetzung damit. Und so etwas darf Zeit brauchen, es ist traurig und zunächst schwer zu begreifen, warum ein Kind so früh sterben muss oder warum genau wir nun diesen Schicksalsschlag erleiden müssen. Wir können warten, bis jemand kommt, der uns das abnimmt. Der für uns betet, trauert, weint, der uns vielleicht erlaubt, uns die Zeit zu nehmen, die wir gerade brauchen, oder die Gefühle zu fühlen, die gerade gefühlt werden wollen. Oder wir können uns all das selbst nehmen, selbst erlauben. Und dann eben auch selbst fühlen, so schmerzhaft das leider auch immer wieder sein mag.
Wir können selbst beten, selbst kleine Rituale finden, selbst was auch immer es ist tun, das uns in unserer Trauer und in unserem Leben hilft. Und damit womöglich auch den Verstorbenen helfen, so wie ich es bereits in diesem Artikel beschrieben habe. Das heißt nicht, dass wir das alles alleine machen müssen. Wir dürfen uns Rat holen, Unterstützung und Begleitung auf diesem Weg. Es geht für mich an dieser Stelle vor allem darum, dass wir nicht erwarten, dass wir selbst nichts mehr machen müssen, sobald jemand anderes da ist, der uns helfen möchte. Ein guter Begleiter wird an deiner Seite stehen, dich sehen wie du bist, dir zuhören, dich halten, dir auch einige Dinge abnehmen können. Aber eben nicht die Verantwortung für dich selbst. Er oder sie kann dir Vorschläge machen. Imaginationen, kleine Rituale, womöglich Mantras oder Gebete, wenn du damit etwas anfangen kannst, kleine nächste Schritte. Gehen musst du sie selbst. Und ich weiß, dass du es kannst. Du brauchst niemanden, der das für dich tut. Du hast diese Kraft in dir. Egal wie verborgen sie sich gerade anfühlt, sie ist da. Und vielleicht ist der Schritt heute noch nicht dran, aber morgen kann alles schon wieder ganz anders aussehen.
Mir selbst hat diese Haltung von Begleitern und Therapeuten mir gegenüber sehr geholfen. Die Verantwortung lag immer bei mir, ich war und bin die Expertin meiner eigenen Trauer, niemand sonst. Egal wie sehr ein anderer auf dem Papier für Trauer oder Psychologie oder sonst irgendetwas Experte sein mag, meine Trauer und meine Gefühle gehören mir und niemand sonst kann wissen, was ich wirklich brauche. Auch nicht der allerbeste Therapeut oder die engste Freundin. Jemand anderes kann mir dabei helfen, es herauszufinden, das schon. Aber er kann es nicht wissen und er kann es nicht für mich umsetzen. Ich hatte immer wieder Phasen, in denen mich das wirklich überfordert und auch wütend gemacht hat. Wieso kommt da niemand, der mir sagt, wie es genau geht, wie lange es dauert und was ich denn nun machen soll? Wieso nimmt mir das hier niemand ab? Letzten Endes bin ich froh und dankbar, dass ich meinen eigenen Weg gehen konnte, so schmerzhaft der auch war. Nur so konnte auch ich selbst daran wachsen, mich weiterentwickeln, meinen Frieden mit Julians und ganz allgemein mit dem Tod finden. Es ist und bleibt mein Leben, auch wenn ich es zwischendurch mal so nicht haben wollte.
Das sind nun meine Gedanken zu dieser kurzen Antwort des Dalai Lama. Wie ist das für dich? Was liest du aus seinen Worten heraus? Was wünschst du dir als Unterstützung für deine Trauer? Wie fühlt es sich an, die Verantwortung dafür selbst zu haben? Was sind deine Gedanken dazu?
Was der Dalai Lama über Trauer sagt, darüber habe ich übrigens hier bereits im Vorfeld zu den Veranstaltungen geschrieben.
Foto: Der Dalai Lama in der Jahrhunderthalle im Dialog mit Schülern am 13. September 2017, Fotograf: Philipp Trocha, Tibethaus
Wenn ich ehrlich bin, warte ich auch irgendwie auf Rettung. Auf eine Person, einen Tag oder ein Ereignis sodass ich plötzlich merke „Ja, jetzt geht es mir schon irgendwie besser“ oder „Ja, jetzt ist es tatsächlich leichter“. Aber diese Rettung kommt einfach nicht. Und sie wird auch nie kommen, zumindest nicht von außen.
Leider sorgt das Wissen darum noch nicht automatisch für Akzeptanz. Mein Kopf weiß also die Lösung, nur mein Herz kann es noch nicht akzeptieren. Ein langer Weg… aber niemand hat gesagt es wäre leicht.