Das Leben lebt weiter

Gestern habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein kleines Kapitel aus meinem Buch „Zwischen den Welten“ vorgelesen. Es war ein kleiner, liebevoller Kreis, zu dem ich eingeladen worden war, etwas von meinen Erfahrungen über Tod und Trauer zu teilen. Und plötzlich war der Impuls da, dieses Kapitel vorzulesen. Der Moment, in dem ich damals in Nepal noch einmal Julians Seele an seinem toten Körper begegnet bin.

Ein Moment, überhaupt eine Zeit damals 2013, die mein Leben verändert und geprägt hat. So drücke ich es auch in meinem Buch aus und wusste doch darin noch nicht, wie mein Weg weitergehen würde. Es wieder einmal in den Händen zu halten und daraus zu teilen war für mich auch deshalb so besonders, weil ich seit einiger Zeit einen Prozess der Transformation meiner eigenen Geschichte erlebe. Das Buch ist seit einem Jahr nicht mehr erhältlich und zugleich kann ich nicht frei darüber verfügen. Eine Situation, die mich fragen lässt, ob es wohl genug damit ist. Ob es wohl einfach häufig genug erzählt wurde. Oder ob es einer Neuerzählung bedarf, eines Ausdrucks der Transformation, die in der Zwischenzeit geschehen ist.

Es dann in die Hand zu nehmen und meine eigenen Worte zu lesen, hat mich so berührt, weil ich spüren konnte, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Damals, als ich diese Worte geschrieben habe, war Julians Tod gerade vier Jahre her. Nun sind weitere vier Jahre vergangen. Das Leben lebt weiter, neue Geschichten verweben sich mit den alten und formen neue Sichtweisen auf das Leben selbst.

Damals habe ich viel darüber geschrieben, wie wertvoll es für mich war, in Nepal einen so natürlichen Umgang mit dem Tod zu erfahren. Ich hatte mich aufgemacht, die Trauer hier in Deutschland laut zu machen und unsere eigene Kultur im Umgang mit dem Tod in Frage zu stellen. Nur wusste ich damals eigentlich gar nichts darüber, wie wir hier in Deutschland mit dem Tod umgehen. Ich hatte meine eigene Erfahrung mit der Trauer, die Geschichten anderer Menschen dazu und die Theorie, die ich in Trauerbüchern und -kursen gelernt hatte. Aber so richtig hatte ich eigentlich keine Ahnung.

Als ich meine eigenen Zeilen von damals gestern las, spürte ich auf einmal, wie diese Erfahrung, die ich gemacht habe, in der Zwischenzeit geerdet wurde. Aus der Theorie bin ich in die Praxis eingestiegen. In den letzten Jahren durfte ich in meiner Arbeit als Bestatterin und Trauerrednerin erfahren, was geschieht, wenn Menschen in Deutschland sterben. Ich durfte so viele Menschen kennenlernen, die auf ihre ganz eigene Art mit dem Tod umgehen. Es hat mich eine gewisse Demut gelehrt. Ich durfte begreifen, dass nicht jeder die gleichen Bedürfnisse hat, dass nicht jeder eine laute Trauer braucht oder Räume, in denen mehr über den Tod gesprochen wird. Jede und jeder von uns geht den ganz eigenen Weg durchs Leben.

Ich durfte vielen verschiedenen Verstorbenen begegnen und auch ihre unterschiedlichen Wege wahrnehmen. Manche Seelen machen sich sofort auf den Weg, weit weg von ihrem Körper. Andere bleiben noch eine Weile, sind noch ganz präsent im Raum und erzählen auf ihre Art ihre Geschichten.

Ich durfte verstehen, dass der Tod so viele Gesichter hat. Und dass all das zu unserer Erfahrung hier auf der Erde dazu gehört.

Vielleicht war ich auch deshalb ein wenig still, was mein Schreiben hier im Blog anging. Ein Wechsel aus Erfahrungen machen und davon erzählen. So bin ich selbst gespannt, welche Worte sich womöglich wieder in mir formen und hier zu digitalem Papier gebracht werden wollen.

Danke an euch, die ihr immer noch und auch neu oder wieder hier seid.

Foto: pixabay

1 Gedanke zu „Das Leben lebt weiter“

  1. Liebe Silke!
    Deine Texte finde ich immer wieder sehr schön und berührend. Auch wenn ich nicht mehr so regelmäßig hier vorbeikomme, finde ich es sehr schön, dass es deinen Blog gibt und auch immer wieder mal ein neuer Text hier ist (und selbst wenn keine neuen mehr kämen, würde ich die bestehenden ab und an lesen oder wiederlesen)
    Danke für deine Texte! <3
    Liebe Grüße!
    Andrea

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