Wer bin ich, wenn ich nicht mehr leide?

Was wäre, wenn es dir tatsächlich gut ginge? So richtig. Was wäre, wenn du dein Leben genau so leben könntest, wie du es jetzt möchtest? Wenn alles wieder “normal” wäre, was auch immer das heißen mag. Oder vielleicht eben gerade nicht “normal”, sondern sogar ganz außergewöhnlich und genau dir entsprechend. Wenn einfach alles so wäre, wie du es dir erhoffst und erträumst.

Vielleicht wirst du jetzt antworten, dass das nicht geht, weil dein geliebter Mensch nicht mehr an deiner Seite ist. Es stimmt, diese beste Lösung, das, was wir uns wirklich wünschen, wird es nicht geben. Und dennoch: Was wäre, wenn du wieder glücklich sein könntest? So richtig wirklich glücklich in deinem Leben.

Natürlich möchten wir das alle. Wir wollen doch nicht mehr leiden. Wir wollen doch, dass es uns gut geht. So lange haben wir uns schon mit unserem Verlust auseinandergesetzt, gekämpft, gelitten, vielleicht Hilfe und Unterstützung gesucht. Jetzt ist es doch mal gut, es soll endlich wieder gut für uns sein. Wir finden: Es könnte uns jetzt wirklich besser gehen. Aber es klappt nicht. Wieder und wieder fallen wir hin und alles erscheint einfach nur anstrengend. Wir haben das Gefühl, uns endlos im Kreis zu drehen. Unser Verstand erzählt uns, dass wir doch eigentlich wissen wie es gehen könnte und schlägt noch zusätzlich auf uns ein. Warum kriegen wir es nicht hin, warum schaffen wir es einfach nicht, wieder glücklich in unserem Leben zu werden? Wir wollen es doch so sehr!

Irgendwann kam bei mir die Frage hoch: Wer bin ich denn, wenn das nicht mehr so wäre? Wer bin ich, wenn ich nicht mehr die trauernde Silke bin? Wer bin ich, wenn ich nicht mehr hinfalle, wenn ich plötzlich nicht mehr träume, sondern die Veränderung lebe? Was mache ich, wenn ich nicht mehr leide? So weh es tat, ich hatte mich auch ganz gut eingerichtet in diesem Leid. Vielleicht ein bisschen versteckt vor der Welt da draußen. Auf eine Hochzeit gehen? Sorry, aber ich trauere, das kann ich nicht. Mein Leben wirklich in die Hand nehmen anstatt nur davon zu träumen? Oh ich würde wirklich gerne, aber ich trauere doch so sehr, das geht gerade wirklich nicht.
Versteh mich nicht falsch. Das war alles gut und wichtig, auch das Verstecken vor der Welt, und ich brauchte diese Zeit. Ich brauche sie auch immer noch und spüre nach wie vor ganz genau hin, was mir gut tut und was nicht. Es geht nicht darum, dich zu irgendetwas zu zwingen. Doch irgendwann merkte ich: Der Verlustschmerz selbst ist gar nicht mehr so übermächtig, meine Trauer hatte vielleicht lange genug ihren Raum und wäre durchaus bereit, sich ein bisschen zurückzuziehen. Ich realisierte, dass es mir eigentlich jetzt besser gehen könnte, ich aber keine Ahnung hatte, was dann kommen würde. Die Trauer hatte so lange mein Leben bestimmt, dass ich gar nicht wusste, wie das Leben ohne sie wohl aussehen könnte.

In der Theorie wünschte ich mir also, dass es mir besser geht. Aber was bedeutete das genau? Es hatte sich doch schon so viel verändert unterwegs. Freundschaften waren zerbrochen, ich hatte meine Arbeit aufgegeben, mich auf die Suche nach einem neuen Sinn begeben. Und dann hatte ich ganz unerwartet auch neue Menschen getroffen. Freunde, die mich in meinem Schmerz ertragen haben, mit mir gegangen sind. Was, wenn sie sich wieder von mir verabschieden würden, wenn es mir auf einmal besser ginge? Was wenn ich dann schon wieder von vorne anfangen müsste? Oder ist das dann nicht eher eine Schleife? Es geht mir besser, ich verliere dadurch die Freunde, die die trauernde Silke mögen, es geht mir wieder schlechter weil ich alleine bin, dadurch funktionieren die Freundschaften auch wieder? Und dennoch diese Angst: Was wenn ich erneut Verluste erfahren würde, nur dadurch, dass es mir eigentlich besser ginge? Was wenn ich vielleicht noch mal ganz tief falle, nur weil ich mir für einen Moment erlaube, ganz weit nach oben zu gehen?

So kann es unterschiedliche Gründe geben, warum wir an der Trauer festhalten, auch noch zu einem Zeitpunkt, an dem sie eigentlich bereit wäre, zu gehen. Auch das Gefühl, über die Trauer mit unserem geliebten Verstorbenen verbunden zu sein, kann ein guter Grund sein, sie nah bei uns zu behalten. Und vielleicht gibt es auch ganz tief verborgene Gründe, die so subtil sind, dass wir sie kaum wahrnehmen können. Da sitzt irgendwo tief in uns drin ein Teil von uns, der uns beschützen möchte. Der vielleicht davon überzeugt ist, dass eine erneute Veränderung uns Schaden zufügen wird. Schließlich leben wir immerhin mit der Trauer, vielleicht nicht gut, aber wir leben. Wer weiß, was passiert, wenn wir es zulassen, dass sie geht. Veränderung bedeutet immer Ungewissheit und so sind es nicht nur die Veränderungen zum Negativen, die uns Angst bereiten.

Irgendwann konnte ich es zulassen, dass die Trauer tatsächlich in den Hintergrund ging. Das heißt nicht, dass ich nie mehr traurig bin, ganz und gar nicht. Es heißt auch nicht, dass es keine Tage mehr gibt, an denen es mich wieder richtig umhaut. Aber die Trauer hat mich nicht mehr voll im Griff. Tatsächlich hat sich keine meiner Ängste bestätigt. Die Freundschaften haben gehalten, auch wenn ich nicht mehr die trauernde Silke bin. Und mit Julian fühle ich mich immer tiefer und klarer verbunden, so dass ich die Trauer nicht mehr brauche, um mich ihm nahe zu fühlen. Meine Liebe zu ihm ist freier und leichter geworden und braucht nicht mehr die Trauer als Ausdruck und Verbindungsglied.

Wie ist es bei dir? Ist deine Trauer bereit zu gehen und was würde das für dich bedeuten?
Zum Schluss noch eine Buchempfehlung dazu, mal wieder von Roland Kachler, der mir persönlich so eine gute Orientierung in meiner Trauer gegeben hat: „Meine Trauer geht – und du bleibst“

Foto: Moyan Brenn

10 Gedanken zu „Wer bin ich, wenn ich nicht mehr leide?“

  1. Wow! An einem ganz ähnlichem Punkt bin ich (nach fast 16 Monaten) jetzt angelangt. Ich habe allerdings keine Ängste vor dem was jetzt kommt. Ich habe meinen Frieden mit meinem Mann (seinem Verlust) geschlossen und denke jetzt nicht mehr nur traurig sondern fast ausschließlich dankbar an unsere Zeit zurück. Es gibt immer auch Tage, die mich in ein Trauerloch fallen lassen. Dies ist aber längst nicht mehr so tief und ich komme schnell wieder auf die Beine.
    Meine Grundstimmung ist einfach gut und ich habe wieder Lust auf mein Leben. Ich bin gespannt und neugierig auf das, was es für mich noch bereithält und mir ist klar, dass nicht nur schöne und gute Zeiten auf mich warten.

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    • Liebe Bine,
      danke dir für deinen Kommentar. Wow, ich freue mich zu lesen, dass deine Grundstimmung gerade so gut ist und du gespannt und neugierig nach vorne gehst. Deine Worte sprühen vor Energie. Ich wünsche dir, dass du mit dieser Energie und Dankbarkeit im Herzen weitergehen kannst und auch die vielleicht nicht ganz so schönen und guten Zeiten dir weniger „anhaben“ können.
      Herzliche Grüße
      Silke

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  2. Hallo Silke,
    Danke für diesen interessanten und ehrlichen Text. Dass man sich manchmal hinter der Trauer versteckt, das kann ich gut nachvollziehen.
    Ich kann mich noch erinnern, wie ich manchmal dachte, wie soll ich das können, wenn meine Schwester tot ist…
    Heute frage ich mich manchmal, wie ich wäre, wenn meine Schwester nicht gestorben wäre oder wenn ich nie eine Zwillingsschwester gehabt hätte, denn ihr Tod hat natürlich mein Leben geprägt.

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    • Hallo,
      danke dir für deinen Kommentar – ich freue mich, wieder hier von dir zu lesen. Ja, das ist ein berechtigte Frage. Wie soll überhaupt irgendwas gehen, wenn sie doch tot ist.
      Diese „was wäre wenn“-Fragen sind immer so interessant und doch nie wirklich zu beantworten. Ich denke oft, dass ich für vieles, was ich in den letzten Jahren gelernt habe, sogar sehr dankbar bin. Dann wünschte ich mir, ich könnte es mit Julian teilen, aber genau das ist ja der Punkt .. ich hätte es nicht gelernt, wenn er nicht gestorben wäre. Deine Erfahrung ist natürlich ganz anders, ich kann mir nur ganz ansatzweise vorstellen wie das ist, weil ich noch nicht mal eine Zwillingsschwester habe. Klar hat ihr Tod dein Leben geprägt – und auch ihr (leider so kurzes) Leben. Also auch ihr Leben hat dein Leben geprägt meine ich.
      Ganz liebe Grüße an dich

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  3. Liebe Silke, danke für diesen wunderbaren Artikel. Du beschreibst einen Aspekt, den ich so noch gar nicht betrachtet habe. Das Sich-Einrichten in der Trauer und das Aushalten der Unsicherheit, wenn ich an ihrer Stelle Platz schaffen möchte für Neues.
    Danke für Deinen Gedankenanstoß. Herzliche Grüße, Christine

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    • Liebe Christine,
      danke dir für deinen Kommentar. Es freut mich sehr, dass ich dir mit meinem Artikel einen kleinen Gedankenanstoß geben konnte.
      Ich wünsche dir alles Liebe auf deinem weiteren Weg und dass etwas wunderbar Neues entstehen kann an der Stelle wo sich deine Trauer zurückziehen darf.
      Herzliche Grüße
      Silke

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  4. Liebe Silke,
    vielen Dank für Deinen bemerkenswerten Beitrag. Er kam wie ein kleines Gottesgeschenk zu mir und enthält genau zum richtigen Zeitpunkt die für mich wichtigen Gedankenanstöße. Ich bin mir gewiss, nichts würde meinen Mann mehr freuen und könnte unsere gegenseitige Wertschätzung besser zum Ausdruck bringen, als wenn ich die Trauer loslasse und beginne die Veränderung mit Zuversicht und Freude zu leben. Unsere Liebe und unser gemeinsam Geschaffenes, auf das er so stolz war, dürfen weiter bestehen und wachsen – in veränderter Form. Ich bin genau an diesem Wendepunkt und freue mich ein wenig auf das Neue mit ihm. Ich hoffe der Mut wird kommen.
    Liebe Grüße
    Monika

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    • Liebe Monika,
      wie schön, dass mein Beitrag bei dir so passend zum richtigen Zeitpunkt kam. Das freut mich sehr. Ich wünsche dir alles Gute und viel Kraft für diesen wichtigen und großen Wendepunkt.
      Liebe Grüße
      Silke

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  5. Liebe Silke,

    danke für diese Seite, danke für deine Texte…ich sauge deine Worte gerade auf, sitze nickend vor dem Computer, lache und weine, fühle mich verstanden und auf einmal bricht meine Angst vor dem „wenn es gut wird“ sich ihren Weg an die Oberfläche.

    Es vermischen sich Hoffnung und riesengroße Angst, so deutlich habe ich das bisher selten gespürt bzw. ich habe es überdeutlich weggeschoben. Auf der einen Seite ist da dieser Tag und unsere Welt bleibt einfach stehen, für einen kurzen Moment, alles was bleibt sind gemeinsame Tränen und die Erkenntnis: unsere Kinder werden nicht leben!

    Jetzt gibt es wieder „gute Hoffnung“ und ich stecke völlig fest, ich kann nicht glauben das es sich wieder gut anfühlen könnte, am Ende bleibt immer meine Verzweiflung und meine Unfähigkeit positiv zu denken, daran zu glauben und letztendlich ist es reiner Selbstschutz, ich habe unendlich große Angst wieder so tief zu fallen…ja, was wäre- wenn….wenn ich dem Leben die Chance gebe an dieser Stelle schon die richtigen Entscheidungen zu treffen…

    Liebe Grüße,

    Romanleserin

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    • Liebe Romanleserin,
      auch für diesen Kommentar vielen herzlichen Dank. Wow, so bewegende Worte. Ich freue mich sehr, dass dir meine Texte gut tun. Ich lese deinen Kommentar und kann es gar nicht glauben, dass er wirklich mir und meinem Blog gilt. Danke, dass du mich daran teilhaben lässt, was du empfindest, während du hier liest.
      Was die Hoffnung angeht, so habe ich in einem anderen Beitrag die Geschichte von der traurigen Traurigkeit zitiert, in der auch die Hoffnung eine Rolle spielt. Vielleicht findest du sie auch hilfreich: Du fehlst – Hier und heute.
      Ganz herzliche Grüße
      Silke

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