Ich bin wieder zurück an dem Ort, an dem alles endete und zugleich begann. Während ich das hier schreibe, sitze ich in der Bamboo Bar am Fewa-See in Pokhara, Nepal. Wenn ich meinen Kopf ein Stück nach links drehe, sehe ich den Hügel, auf dem es passiert ist: Dort ist Julian umgekippt und gestorben. Im März wird es vier Jahre her sein. Vier Jahre, in denen unglaublich viel passiert ist, auch und vielleicht gerade während ich das Gefühl hatte, dass gar nichts mehr geht und ich einfach stehenbleibe.
Wie fühle ich mich nun bei meinem vierten Besuch in diesem Land seit seinem Tod? In den vergangenen Wochen war alles dabei: Freude, Traurigkeit, Glück, ein wenig von der Gefühlslosigkeit, die manchmal kommt, wenn es ein bisschen zu viel auf einmal ist, zwischendurch erstaunlich viel Unbeschwertheit und dann vor allem eins: Dankbarkeit. Heute Morgen beim Frühstück durchflutete sie mich wieder. Eigentlich ein so belangloser und kleiner Moment. Ich alleine am Frühstückstisch, warmes Wasser in der Hand, ein Teller mit Omelett vor mir. Das Restaurant in der zugigen Hotellobby nicht gerade eins der gemütlichsten, links am Tisch eine Gruppe diskutierender Chinesen, vor mir eine ältere Frau – ebenfalls alleine. Von außen betrachtet wirklich nichts besonderes, vielleicht sogar ein paar einladende Gründe, um sich schlecht zu fühlen. Und dann steigt diese Wärme in mir hoch und ich bin einfach nur dankbar. Dankbar, dass ich dort sitzen, dass ich hier in Nepal sein kann, dankbar für diesen friedlichen kleinen Moment. Wie unmöglich es mir doch noch vor einiger Zeit schien, dass ich hier an diesem Ort, der mit so viel Schmerz und Verlust verbunden ist, wieder einmal Unbeschwertheit und echte Freude erleben würde. Ich schreibe dir heute davon, um dir Mut zu machen und dir zu zeigen: Es ist tatsächlich möglich, auch wenn es jetzt noch so unglaublich unmöglich erscheint.
Hier in Nepal werde ich wie nirgends anders daran erinnert, dass wir immer die Wahl haben. Wir selbst können entscheiden, wie wir eine Situation betrachten wollen. Wollen wir uns dem Fluss des Lebens hingeben oder versuchen wir ihn zu kontrollieren? Wollen wir ganz im Moment sein oder entscheiden wir uns lieber, uns Gedanken über Vergangenheit oder Zukunft zu machen? Eins habe ich durch Julians Tod gelernt: Wir haben die Kontrolle nicht. Es gibt keine Sicherheit und wir können uns nicht vor “schlimmen Dingen” schützen, wir können und dürfen aber lernen, anders damit umzugehen und wieder gut damit zu leben. Das geht nicht von heute auf morgen und manchmal geht es auch darum, uns eine zeitlang für den Schmerz zu entscheiden. Denn auch er gehört zum Leben dazu, auch wenn wir uns gerne dagegen wehren wollen.
“Life is what happens while you’re busy making other plans.” (John Lennon)
Genau das passiert hier: Das Leben, in seiner vollen Bandbreite. Hier ist alles möglich, alles kann passieren. So war es möglich, dass Julian hier einfach stirbt und genauso ist es möglich, dass ich hier nun mit Freunden sitze und mich über den größten Quatsch unterhalte und einfach aus vollem Herzen lauthals lache. Es ist möglich, dass ich mich auf eine heiße Dusche freue und mich trotzdem nicht über das eiskalte Wasser, das mir dann tatsächlich entgegen sprudelt, aufrege. Es ist möglich, dass ich den ganzen Tag alleine in einer Bar verbringe, ohne mich wirklich alleine zu fühlen. Es ist möglich, dass ich in Taxis steige, die definitiv nicht den deutschen TÜV überstehen würden, in denen ich mich nicht anschnallen kann und die ganz gruselig fahren und mich trotzdem zufrieden und sicher fühle. Es ist möglich, dass ich gleich in der zweiten Nacht ein Erdbeben erlebe, ohne darüber in Panik zu geraten. Genauso möglich ist es aber auch, dass es mich am nächsten Tag ganz unerwartet umhaut, dass mich die Traurigkeit durchflutet und mir all die beschrieben Dinge mit einem Schlag für den Moment zu viel sind. Alles ist möglich.
Nun würde ich mich wie immer über deinen Kommentar freuen: Welche Möglichkeiten haben sich in deinem Leben eröffnet, an die du nicht geglaubt hättest? Und welche Wahl triffst du heute in Bezug auf deine Trauer und dein Leben? Denk daran: zu trauern und sich dem Schmerz hinzugeben, ist ebenfalls eine Wahl und definitiv keine falsche Entscheidung – vielleicht magst du sie heute einmal ganz bewusst treffen und schauen, ob es für dich einen Unterschied macht.
P.S.: Da ich nun gerade in Nepal bin und es mit Julians Tod und allem, was daraus entstanden ist, zusammen hängt, möchte ich auch hier im Blog auf mein Projekt “Sahaya – Hilfe für Nepal e.V.” hinweisen. Es ist ein gemeinnütziger Verein und wir unterstützen unter anderem unsere Pflegefamilie hier in Pokhara: Ein nepalesisches Ehepaar, das 14 Kindern aus sehr armen Verhältnissen ein ganz wundervolles neues Zuhause mit guter Bildung und der Chance auf eine bessere Zukunft gibt. Wir arbeiten alle ehrenamtlich im Verein und so kommen die Spenden auch wirklich dort an, wo sie benötigt werden. Vielleicht suchst du ja noch ein Weihnachtsgeschenk und hast Interesse an unserem Nepalkalender 2017, von dem der ganze Gewinn direkt in unsere Projekte fließt. Du darfst mich auch gerne kontaktieren, wenn du Fragen dazu hast.
Foto: Entstanden in der Nähe von Pokhara, Nepal, im Dezember 2016
Liebe Silke! Ich bin sehr berührt von deinem wunderbaren Artikel! Du bringst es auf den Punkt, was ich auch erfahren und erkennen durfte: Wir haben eine Wahl. Und manchmal kann alles gleichzeitig sein, die Trauer und die Freude, der Schmerz und die schönen Erinnerungen. Du hast recht, wir können das Leben nicht kontrollieren. Aber wir können unsere Reaktion auf das, was das Leben uns bringt, wählen. Das Erkennen, dass ich eine Wahlmöglichkeit habe, hat mich immer mehr gestärkt. Es ist nicht so, dass ich nicht mehr traurig werde oder nicht mehr weine. Darum geht es ja gar nicht. Es geht (mir) darum, mich nicht wie ein kleines Segelboot zu fühlen, das völlig hilflos den mächtigen Wellen ausgeliefert ist. Ich möchte leben und mich dabei dem Fluss des Lebens hingeben, wissend, dass er mich trägt. Danke für das Teilen deiner Gedanken!
Liebe Elke, danke dir vielmals für deinen lieben Kommentar! Ja, es kann und darf alles gleichzeitig da sein und genau das ist ja auch Leben. Ich erlebe es auch so wie du, dass das Erkennen, dass ich die Wahl habe, mir immer mehr Freiheit gibt. Ich mag deinen Vergleich mit einem kleinen Segelboot. Eine Weile lang mögen wir uns genau so fühlen, aber in Wahrheit sind wir den Wellen niemals komplett ausgeliefert.
Ganz liebe Grüße!
Liebe Silke,
wie schön, diese Zeilen von dir zu lesen: ich freue mich direkt mit dir über diese wunderschönen Reiseerlebnisse und habe das Gefühl, ich kann die Dankbarkeit zwischen den Zeilen greifen…
Der Fluss des Lebens… Ein Bild mit Wasser gefällt mir sehr. Ich habe bis zu Andreas‘ Tod immer alles unter Kontrolle haben wollen. Habe mir ein Boot gesucht, das stabil ist und mich sicher durch die Fluten bringt. Nur keine wilden Aktionen, die das Boot ins Wanken bringen – immer schön für Ausgleich suchen, damit die Füße nicht nass werden… Klar hab ich auch mal was gewagt… Aber nur so weit, wie ich absehen konnte, dass das Boot unter Kontrolle bleibt…
…tja, und da steht dann auf einmal der Tod am Ufer, zieht am Wassersaum, schwenkt ihn hoch, sodass eine Riesenwoge entsteht. Diese Woge reißt mein Boot um, ich tauche unter, kämpfe mich an die Wasseroberfläche, die Welt steht Kopf, ich werde von Strudeln durchgeschüttelt, tauche wieder unter,…
Ich habe es geschafft, ich bin nicht untergegangen… Spontan hätte ich gesagt „ich hatte keine Wahl, er ist einfach so gestorben“ – aber doch, ich hatte die Wahl: ich bin nicht geflüchtet, ich bin da mitten durch, ich habe mich nicht verloren oder gar aufgegeben.
Ich habe mir kein neues, sicheres Boot gesucht… Ich habe ein paar Rettungsringe behalten, an denen ich Halt finde, wenn ich ihn brauche. Aber sonst schwimme ich nun im Fluss des Lebens. Ich spüre das Leben viel intensiver, ich nehme meine Trauer an und lasse mehr Tiefe in mein Leben.
Momente der Dankbarkeit empfinde ich, wenn ich meinen Blick auf das Leben verändere, wenn ich den Blick auf mich selber verändere… Ich bin nun weicher, geschmeidiger und kann mich den Stromschnellen anpassen anstatt gegen sie anzuschwimmen…
Liebe Grüße nach Nepal (oder wo auch immer du gerade schwimmst ;O)
Anja
Liebe Anja,
vielen lieben Dank für deinen Kommentar! Ach wie schön, es freut mich sehr, dass meine Dankbarkeit zwischen den Zeilen für dich greifbar ist.
Wie schön du das Bild vom Fluss des Lebens aufgreifst .. Gefällt mir wirklich sehr! Das Schwimmen im Fluss des Lebens .. und wenn wir uns ganz drauf einlassen, merken wir, dass wir den Fluss zwar nicht kontrollieren können, dass wir aber eine Art eingebautes Navi schon an Bord haben, mit dem wir auch durch reißendere Teile des Flusses gelangen können, ohne uns dabei schwere Verletzungen zuzuziehen – ich spreche von unserer Intuition, die immer weiß wo es langgeht. Ich glaube, darüber schreibe ich mal einen Artikel 🙂
Jedenfalls sehr berührend, wie du deine Entwicklung beschreibst, wie du mittlerweile ganz anders sein kannst in diesem unberechenbaren Fluss des Lebens.
Liebe Grüße zurück aus Nepal 🙂
Silke
Danke für deinen einfühlsamen Post, liebe Silke. Dazu fällt mir ein Zitat aus einem Buch von Eckart Tolle ein:
— Ein buddhistischer Mönch sagte einst zu mir: „Alles, was ich in den zwanzig Jahren als Mönch gelernt habe, kann ich in einem Satz zusammenfassen: Was entsteht, vergeht auch wieder. Das weiß ich.“ Er meinte damit natürlich dieses: Ich habe gelernt, dem, was ist, keinen Widerstand entgegenzusetzen; ich habe gelernt, den gegenwärtigen Moment zuzulassen und die vergängliche Natur aller Dinge und aller Umstände anzunehmen. So habe ich Frieden gefunden. — Zitat Ende — Dem, was ist, keinen Widerstand entgegenzusetzen – ja, das ist es. Es ist schwierig und doch so wichtig. Alles Gute für Dich.
Danke dir für deinen Kommentar, liebe/r W.!
Das ist ein wirklich schönes Zitat, danke auch für´s Teilen. Den Widerstand aufgeben ist wirklich nicht einfach und doch bringt es so unglaublich viel Freiheit mit sich. Und manchmal denkt man, man hätte ihn aufgegeben, nur um ihm einen Tag später noch einmal umso heftiger zu begegnen – meiner Erfahrung nach gehört all das zum Prozess dazu.
Ich wünsche dir ebenfalls alles Gute!
Liebe Silke,
danke wieder dafür, dass du uns an deinen Gefühlen, Gedanken, Erleben immer wieder teilnehmen lässt.
„Fluss des Lebens“ , dazu fällt mir ein Text ein, den ich in einem Trauerbüchlein, vor längerem las.
Da ging es um eine Brücke , über das Gehen hinüber und herüber.
Wie der Gang in der Trauer, hinüber wohin der andere gegangen ist. Und zurück, da wo man mit ihm war, in der Zeit des gemeinsamen Lebens.
Diese Hin-und Hergehen ist wichtig. Denn da ist etwas abgerissen und verloren gegangen. Unsere Erinnerung fügt es zusammen und bringt es zurück.
Da ist etwas von uns selbst weggegangen, was man braucht, und deshalb nachgeht.Man muss es bewahren, um weiter leben zu können.
So muss man die Vergangenheit erwandern , hin und her.
So lange bis einmal der Gang über die Brücke auf einen neuen Weg führt.
Auf dem bist du nun wohl schon.
Ich denke, ich muss noch ein wenig hin und her….
Herzliche Grüße,
Liebe Martina,
danke dir für deinen Kommentar! Das ist ein wirklich schönes Bild mit der Brücke, über die wir ganz lange hin und hergehen müssen, bis ein neuer Weg entsteht. Oder vielleicht bis die Verbindung über die Brücke so selbstverständlich besteht, dass wir uns dessen sicher sein können und dass wir aus diesem Vertrauen heraus dann neue Wege entdecken dürfen.
Herzliche Grüße
Silke
Liebe Martina,
ich finde Dein Bild der Brücke und des Hin- und Hergehens sehr berührend!!!
Alles Liebe für Dich!!