So viele Dinge, die einmal Bedeutung hatten

So viele Dinge

Wenn wir leben, denken wir meist gar nicht so viel darüber nach. Mir ging es jedenfalls früher so. Wir sammeln Dinge an, füllen unsere Wohnungen oder Häuser mit Gegenständen. Büchern, DVDs, technischen Geräte, Dekoartikeln, Kleidung, Schuhen, Erinnerungsstücken und allem, was man eben so zum Leben braucht. Oder meint zu brauchen. Vieles davon scheint so wichtig zu sein. Welchen Fernseher kaufe ich mir, welches Kleid steht mir wohl am besten? Woher nehme ich das Geld für das neue Smartphone? Und irgendwann stirbt man. Und all das bleibt einfach zurück. Lauter unbelebte Dinge, die an ein gelebtes Leben erinnern.

Wenn wir sterben, können wir nichts davon mitnehmen. Wir kommen ohne alles auf diese Welt und wir verlassen sie auch wieder ohne all das, was wir zwischendrin angesammelt haben. Es bleibt einfach zurück, zusammen mit den Menschen, die wir lieben. Die Menschen, die weiterleben und noch eine Weile auf dieser Erde bleiben. Wenn du das hier liest, gehörst du wohl eher zu diesen Lebenden. Und vielleicht hast du auch noch einige Kisten, Schränke oder ganze Zimmer voller Sachen deiner geliebten Verstorbenen. Was macht man mit all den Dingen? Wann ist der richtige Zeitpunkt, sie wegzugeben? Und wohin? Ist es krankhaft, an ihnen festzuhalten und nichts verändern zu wollen? Ist es verrückt, die Schuhe einfach erstmal im Flur stehen zu lassen? Oder vielleicht ganz normal? Bin ich falsch, wenn ich alles sofort loswerden will? Einfach nur weg, egal wohin?

Vielleicht ahnst du es schon: Es gibt auch hier kein „richtig“ oder „falsch“. Auch wenn dein Verstand oder Menschen in deinem Umfeld dir das vielleicht sagen wollen. Sie sagen, es muss doch weitergehen und es täte dir gut, all das loszuwerden. Oder sie behaupten, es sei zu früh und du würdest es bereuen, wenn du jetzt alles weg gibst. Egal wie, sie können es gar nicht beurteilen. Nur du weißt, was dir gut tut. Dein Herz weiß es und du wirst es spüren, wenn du soweit bist, einen nächsten Schritt zu gehen. Bei mir war es so, dass ich nicht einmal die kleinste Veränderung in unserer gemeinsamen Wohnung ertragen konnte. Es ging einfach nicht. Es musste erstmal alles genau so bleiben wie es war. Bei dem Gedanken daran, etwas umzustellen oder gar Dinge von ihm komplett wegzugeben, hatte ich richtig körperliche Schmerzen und große Ängste. So viel Veränderung war mit seinem plötzlichen Tod einfach so ungewollt geschehen, ich konnte keine weitere ertragen. Ich hatte das Gefühl, nun unbedingt für ihn auf seine Sachen aufpassen zu müssen. Sie waren ihm doch so wichtig gewesen! Und ich war doch die Frau an seiner Seite gewesen und nun musste ich dafür sorgen, dass die Dinge da blieben. Wofür? Ich weiß es nicht, es gibt keine logische Erklärung für diese Gedanken. Vielleicht war es der Teil in mir, der noch nicht wahrhaben wollte, dass er wirklich für immer weg sein sollte. Die leise Hoffnung, er würde doch wieder kommen. Vielleicht war alles ein Versehen und dann wäre er doch sicher sauer, wenn seine Sachen nicht mehr da wären? Was wenn er morgen wieder in der Tür stehen würde und ich hätte alles weggegeben? Und selbst wenn er nicht wiederkommen würde, so würde er doch vielleicht von dort, wo er nun war, zusehen und sich wünschen, dass unsere Wohnung genau so bleibt, wie er sie eben auch geliebt hatte?

Vielleicht kennst du diese Gedanken, die so irrational erscheinen und auf eine Art auch sind. Und doch ist es okay, sie zu haben. Es geht nicht darum, rational zu sein. Es geht darum, zu fühlen. Es ist okay, wenn du dir deine Zeit nimmst, um dich mit diesen Dingen auseinander zu setzen. Es ist okay, wenn nicht alle deine Handlungen nachvollziehbar sind oder nach außen Sinn machen. Irgendwann wird der Impuls kommen und dann wirst du wissen, welche Veränderung jetzt für dich möglich ist. Es wird dann einfach klar sein. Jetzt muss es das noch nicht. Und wenn dieser Impuls gleich am ersten Tag da ist, dann ist das ebenfalls in Ordnung. Jeder Mensch ist anders und jeder geht mit einer solchen Situation anders um. Ich jedenfalls hätte vor Julians Tod gedacht, dass ich ganz anders damit umgehen würde. Das machte es mir umso schwerer, meine „komischen Anwandlungen“ selbst zu akzeptieren. Und gleichzeitig wusste ich tief drin, dass es nicht anders geht. Ich konnte nur immer wieder aufs Neue fühlen und schauen, was ich jetzt gerade brauche, was jetzt gerade dran ist. Es brachte mich nicht weiter, irgendetwas erzwingen zu wollen, was mir und meiner Trauer nicht entsprach. Es ging nicht schneller, wenn ich auf die Ratschläge anderer oder meines eigenen Verstandes hörte.

Manche Dinge lassen sich natürlich nicht vermeiden. Irgendwann blieb mir nichts mehr anderes übrig, als abgelaufene Lebensmittel, die er noch gekauft hatte und die ich gar nicht essen mochte, wegzuwerfen. Und irgendwann kamen dann auch die Impulse, erste Sachen zur Seite zu räumen. Mir hat dabei geholfen, alles zu fotografieren. Egal was es war, das ich in unserer Wohnung verändert habe, ich habe immer ein Foto davon gemacht. Ich kam mir selbst ziemlich bescheuert dabei vor und fragte mich, was ich da tue. Aber es hat geholfen und das ist die Hauptsache. So hatte ich das Gefühl, jederzeit nachsehen zu können, wenn ich irgendwann einmal nicht mehr wüsste, was da noch mal wo in unserer Wohnung stand. Auch als ich aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen bin, hat mir das geholfen. Ich habe sogar Audioaufnahmen vom Straßenlärm vor unserem Fenster gemacht. Ehrlich gesagt habe ich nichts davon jemals wirklich angeschaut oder angehört, aber ich wusste, ich hätte es jederzeit gekonnt.

Jeder Gegenstand war anfangs mit einer Erinnerung verknüpft. Unsere ganze Wohnung war ein Ort, an dem ich Julian sehr nahe sein konnte. Unser gemeinsames Leben hatte hier stattgefunden. Ich hatte lange Zeit immer wieder großes Heimweh nachdem ich ausgezogen war. Wäre es finanziell möglich gewesen, ich wäre sicher noch eine Weile dort geblieben. Man sagte mir, es würde mir gut tun zu gehen, neu anzufangen, dieses scheinbare „Museum“ unseres Lebens zu verlassen. Ich war mir da nicht so sicher. Es schmerzte zu dem Zeitpunkt einfach alles noch so sehr.

Lange Zeit brauchte ich noch viele der Gegenstände, die auch in unserer gemeinsamen Wohnung gestanden hatten, ganz präsent in meinem Zimmer. Sie mussten einfach dort stehen, auch wenn ich sie gar nicht verwendete. Sie waren ein Stück von ihm und ich brauchte diese greifbaren Dinge im Außen als Ausdruck dessen, dass er weiter Teil meines Lebens sein durfte. Bis ich irgendwann merkte, dass es mich störte, dass sie dort standen. Was sollte ich damit, wenn ich sie doch nicht benutzte? Was brachte es mir, wenn sie dort standen und der einzige Bezug dazu Julian war? Julian lebte doch nicht in diesen Gegenständen, sondern vielmehr in mir, in meinem Herzen und in meinen Erinnerungen weiter. Ich spürte, dass es langsam Zeit wurde, den Raum wieder mit meinen eigenen Dingen zu füllen. Mit meinem eigenen, neuen Leben. Erst dann konnte ich seine Sachen Schritt für Schritt wegräumen. So war es ein langer Weg bis zu der Einsicht, dass es wirklich einfach nur Gegenstände sind. Dinge, die einmal für einen Menschen eine Bedeutung hatten. Aber dieser Mensch ist nicht mehr da und für mich bedeuten sie nichts mehr. Natürlich gibt es einige Erinnerungsstücke und auch Gegenstände, die ich weiterhin benutze. Einfach weil ich sie auch selbst brauchen kann, weil sie in mein Leben passen und nicht bloß in seins oder unseres. Ich brauche sie aber nicht mehr, um mich mit Julian verbunden zu fühlen. Diese Verbindung ist losgelöst von allem materiellen, weltlichen. Sie ist einfach da und sie bleibt.

Wie geht es dir mit den Gegenständen deines lieben Verstorbenen? Hast du sie bereits weggegeben? Oder behältst du sie lieber noch eine Weile?

Übrigens, wenn es ums Ausräumen geht, kann ich dir eine liebe Freundin empfehlen, die sich wirklich damit auskennt. Sie weiß, wo man die verschiedenen Sachen am besten los wird und kennt viele hilfreiche Methoden, die sich vor allem auf die gedanklichen und emotionalen Hürden beim Ausräumen beziehen. Andrea von weggebracht.de unterstützt dich gerne, solltest du das Gefühl haben, alleine nicht weiterzukommen.

Meine ganze Geschichte findest du in meinem Buch, das am 10.11. erscheint:

   

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Eine Antwort

  1. Liebe Silke, ich erkenne mich in Deinem Blog und auch in Deinem Buch wieder, einiges ist natürlich austauschbar, Namen und Orte, aber dieses ganze Gefühls- und Gedankenchaos, die körperlichen Schmerzen, die aus dem Nichts zu kommen scheinen, die Schuldgefühle und die ganz besonders, dass ich ihn nicht retten konnte, dass ich doch irgendetwas falsch gemacht haben muss, weil er doch jetzt tot ist… die Gedanken, dass es nur ein Alptraum ist und er gleich die Tür hereinkommt und all die Gefühle und Gedanken, die nach seinem Tod über mich hereingebrochen sind… auch der Gedanke, nicht mehr leben zu wollen, ihm zu folgen, war und ist mir auch heute noch nicht fremd… mich hält aber zurück, dass er nicht mehr leben durfte, wie kann ich dann hingehen und mein Leben wegwerfen… er hätte noch so gerne gelebt… die Frage nach dem „Warum“ und „wieso er“ quält mich immer wieder…. ich habe mir Hilfe geholt und mache eine Trauma-Therapie, um an dem Erlebten nicht zugrunde zu gehen und vielleicht irgendwann – wer weiß wann das sein wird – wieder so etwas wie Lebensmut zu haben… ich musste mich von einem Großteil seiner Sachen trennen, weil ich die Wohnung auflösen musste, die Umstände waren nicht dazu angetan, dass ich dort wohnen konnte, nachdem Holger nicht mehr da war… ich musste unseren Kater hergeben, was mir dann noch besonders schwer gefallen ist, weil Tiger (unser Kater) ein Freigänger, nicht in eine Stadtwohnung verpflanzt werden kann, da habe ich für das Tierwohl entschieden und gegen meinen Wunsch, ihn, wenigstens ihn zu behalten… aber es war die richtige Entscheidung, ich habe ein gutes neues Zuhause gefunden, davon bin ich überzeugt… Holger hatte ein ganz besonderes Verhältnis zur Natur und zu den Tieren und sie zu ihm, besonders scheue Tiere sind zu ihm gekommen, haben ihn begleitet, auch durch die Natur… da erkenne ich ihn in Deinem Buch wieder und ein Stückweit auch mich, die Natur war uns/ist uns sehr wichtig… übrigens habe ich seit Holger nicht mehr da ist, das Gefühl, dass er bei mir ist, ganz in meiner Nähe und mich begleitet…. und das gibt mir Kraft…

    einige seiner Sachen habe ich in mein „neues“ Leben hinüberretten können… aber ich weiß, dass ich irgendwann entscheiden muss, was bleiben soll und was gehen kann…. aber noch ist jedes kleine Fitzelchen Papier für mich ein besonderer Schatz…

    ich habe meinen Lebensmut noch nicht wiedergefunden und funktioniere eigentlich nur… ich hoffe, dass ich irgendwann wieder den Mut habe, in diesem neuen Leben Fuß zu fassen und mich ihm zu öffnen…

    vielleicht bin ich auch nur zu ungeduldig mit mir, Holger hat diese Welt und dieses Leben am 18.09.2016 verlassen…. und hat mich mitgenommen…

    es gäbe noch so viel zu sagen….

    ich danke Dir für Deinen Blog und Dein Buch, ich fühle mich hier gut aufgehoben und verstanden…

    Liebe Grüße
    Annette

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