Lieber Tod,
du bist so plötzlich und völlig ohne Einladung in mein Leben gestürzt. Auf einmal warst du da und ich war so wenig vorbereitet auf dich. Ja, klar, meine Großeltern waren bereits tot. Ich wusste schon irgendwie, dass du zum Leben dazu gehörst. Aber doch nicht so mitten drin. Ich dachte, du wartest, bis die Menschen, die ich liebe, alt geworden sind. Ich dachte, dass du dich zurückhältst, während wir so ganz dabei sind zu leben. So wie alle eben. Ich dachte wirklich nicht, dass du einfach so aus dem Nichts da sein könntest. Ja, ich weiß, du warst es nicht, der mich das hat glauben lassen. Du warst ja immer um mich, immer präsent. Ich habe schon gewusst, dass du theoretisch da bist, zu jeder Zeit. Ich dachte nur, dass du mich verschonst, ich dachte, das passiert nur anderen, Menschen im Fernsehen oder im Radio, die nicht wirklich zu meiner Realität gehören. Ich weiß, was du jetzt sagen willst. Wie kam ich eigentlich darauf? Was sollte ich haben, das mich vor dir bewahrt? Warum sollte ausgerechnet ich dir nicht begegnen? Du warst nie unehrlich zu mir, doch ich habe dich nicht sehen wollen. Du hast mir einfach so große Angst gemacht. Und irgendwie ja auch zu Recht, findest du nicht? Schließlich hat das ganz schön scheiß weh getan, als du dann da warst. Du warst so unerbittlich. Bist mitten in mein kleines, feines Leben gesprungen und hast erst einmal alles zerstört. Ich weiß, das war gar nicht deine Absicht, aber so fühlte es sich an. Du hast einfach nur das getan, was du eben tun musstest. Aber ich wollte es nicht. Ich wollte behalten, was scheinbar mir gehörte. Ich dachte, ich könnte selbst bestimmen, wie ich lebe und wo mein Weg langgeht. Ich dachte, ich müsste mich nur ein bisschen anstrengen, müsste nur irgendwie alles richtig machen, dann könnte mir nichts passieren. Vielleicht dachte ich auch einfach gar nichts. Ja, eigentlich dachte ich einfach möglichst gar nicht an dich. Du warst gar keine Option in meinem Leben! Dafür war ich doch viel zu jung, zu jung für eine solche Begegnung mit dir. Ich wollte nicht an dich denken und damit verhindern, dass du mich bemerkst. Wenn ich dich nicht sehe, siehst du mich vielleicht auch nicht und ich kann mich und mein Leben irgendwie an dir vorbei schmuggeln.
Aber dir war das egal, du kamst einfach und hast getan, was getan werden sollte. Ich habe mit dir gekämpft, wollte dich nicht wahrhaben, dachte du machst vielleicht nur einen ganz üblen Witz. Ich dachte, das könne unmöglich dein Ernst sein. Wie kannst du einen so liebenswerten, jungen, lebendigen Menschen einfach aus dieser Welt und aus meinem Leben reißen? Ja, irgendwie ging es da um mich. Und auch um Julian, denn er hätte doch auch so gerne noch weitergelebt. Er hat das Leben doch so geliebt, wie kannst du es ihm dann verwehren? Ich habe geschrien, geheult, gebettelt, gelitten, aber all das war dir egal, Du bist wirklich ein sturer Kerl, weißt du das? Nicht einmal mit der Wimper gezuckt hast du bei all meinen Versuchen, dich davon zu überzeugen, dass das nicht dein Ernst sein kann. Dass es besser wäre, wenn du dich in diesem einen Fall einmal umentscheiden und eine Ausnahme machen würdest. Nunja, du hast es wahrscheinlich schon so oft gehört. All die Anschuldigungen, Bitten und all die Abwehr gegen dich. Das bist du wohl gewohnt, dass du nicht gerade der beliebteste Geselle bist hier für uns Menschen.
Dabei verstehe ich heute, dass du uns gar nichts Böses willst. Du bist einfach bloß da und gehört dazu, zum Leben. Nicht mehr und nicht weniger. Wie die Geburt, nur eben am anderen Ende. Und so endgültig wie du zu sein scheinst, bist du gar nicht. Endgültig für diesen Körper in diesem Leben, aber nicht für die Liebe und für das, was da weiter existiert und immer neu entstehen will. Du bist es, der immer neues Leben ermöglicht. Du bist es, der uns immer wieder daran erinnert, was Leben eigentlich bedeutet und wie kostbar es ist. Du nimmst vieles und du gibst vieles. Du bist einfach ein Teil in diesem großen Ganzen, in diesem ewigen Kreislauf des Lebens, des Werdens und Vergehens. Heute weiß ich das. Heute bin ich dankbar, dich sehen zu können, so wie du bist. Ich habe keine Angst mehr vor dir, auch wenn du mir noch manchmal Unbehagen bereitest. Ich hoffe, das ist okay für dich. Weißt du, ich lebe wirklich wieder sehr gerne, deshalb würde ich mich freuen, wenn du mich noch eine Weile hier in diesem Leben verweilen lassen würdest. Ich habe das Gefühl, noch etwas beitragen zu können hier. Und schon versuche ich wieder, mit dir zu diskutieren, dich von etwas zu überzeugen, was außerhalb meines Einflusses liegt. Weißt du, ich bin wirklich okay damit, dass es dich gibt. Wirklich, das meine ich ernst. Bei allem Schmerz, den du auch in mir ausgelöst hast und sicher wieder auslösen wirst, meine ich das wirklich ernst. Denn die Begegnung mit dir hat mir doch auch so viel Heilung ermöglicht. Ich freue mich, dich zu kennen und dir heute in die Augen sehen zu können. Es fühlt sich so viel schöner an als an dir vorbei zu sehen. Danke, dass es dich gibt, lieber Tod. Danke, dass du mich so vieles gelehrt hast. Ich weiß jetzt, dass du nicht das Gegenteil von Leben bist, sondern ein Teil davon.
Danke, dass ich das erkennen durfte.
Liebe Silke,
Danke für Deine Worte. Der Tod ist mir in meinem Leben oft begegnet. In den letzten zehn Jahren nahm er mir jedes Jahr einen lieben Menschen. Es liegt wohl auch am älter werden. Anfangs wollte ich ihn so schnell wie möglich wieder loswerden und leben…
Nach dem wir so sehr gegen ihn gekämpft hatten und er Michael, meine große Liebe, mit sich genommen hat, konnte ich ihn nicht mehr ignorieren. Zu nahe bin ich ihn gekommen. Er hat mich und mein Leben in tausend Puzzleteile zerrissen. Nie habe ich in meinem Leben mehr Scherz und Verzweiflung empfunden. Ich bin mir selbst auf eine neue Art und Weise begegnet. Lasse mir Raum und Zeit für meine Trauer und Traurigkeit. Ich bin eine Andere geworden…
Rigorose Akzeptanz dessen was ist. Ich habe mich auf einen Dialog mit dem Tod eingelassen und ihn in mein Leben „eingeladen“. Er hat mich vieles gelehrt… er ist Teil unseres LEBENS und unsere Zeit endlich… Ich habe durch ihn eine neue Tiefe, Bewusstheit und Lebendigkeit in meinem Leben erfahren und erfahre sie noch immer. Das LEBEN ist jeden Tag ein Geschenk, und die, die wir lieben sollten wir mit unserer LEBENSZEIT beschenken und ihnen nah sein. Am Ende zählt nicht wie viel Zeit wir miteinander gelebt haben sondern wie intensiv unsere Zeit war und ist. Das vergessen wir oft im sogenannten „Alltag“.
Heute hat der Tod für mich Angst und Schrecken verloren. Es tut immer noch weh einen geliebten Menschen zu verlieren und das wird sich auch nicht ändern. Meine Sichtweise hat sich geändert. Ja ich liebe das Leben, so wie es jetzt ist in seiner Tiefe.
Gerade habe ich wieder einen mir lieben Menschen verloren. Meine kleine Schwester hat vielleicht noch drei Monate zu leben (Hirntumor) und meine beste Freundin hat Krebs. Es ist eine sehr, sehr intensive Zeit. Wir geben unserer TRAUER und dem LEBEN Raum, nehmen bewusst Abschied, freuen uns des Lebens, genießen die gemeinsam Zeit, die uns bleibt.
Ich weiß nicht woher diese Kraft in mir kommt… auch diese Zeit ist mein LEBEN…
Liebe Grüße
Gisela