Ich will dich nicht vergessen – Wie Erinnerungen in der Trauer helfen

Solange die Menschen, die wir lieben, die uns etwas bedeuten, leben, können wir unsere Erinnerung an sie immer wieder auffrischen. Vielleicht fühlt es sich nicht einmal wie erinnern an. Wenn ich morgens das Haus verlasse und abends wiederkomme, dann erkenne ich meine Lieben daheim natürlich wieder. Wenn man mich zwischendurch fragt, wie sie aussehen oder wie sie sind, dann kann ich sie selbstverständlich beschreiben ohne groß darüber nachzudenken. Ich kenne sie ja schließlich und vergesse sie nicht, nur weil sie gerade nicht vor mir stehen. Auch wenn ich liebe Freunde einige Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre nicht sehe, kann ich bei einem Wiedersehen an das gemeinsam Erlebte anknüpfen. Ich habe nicht einfach vergessen wie sie aussehen oder wer sie sind. Dann können wir uns gemeinsam erinnern und manchmal werden lang vergangene Erlebnisse so präsent als wären sie gerade gestern erst geschehen. Doch was geschieht nach dem Tod? Was ist, wenn ich keine Möglichkeit mehr habe, diese vielen Erinnerungen mit demjenigen aufzufrischen? Nie mehr? Was wenn es nie mehr neue gemeinsame Erinnerungen geben kann? Auf Trauerkarten und in Gedichten lesen wir oft in unterschiedlichen Formen, dass der Verstorbene in genau diesen Erinnerungen weiterleben wird. Es ist zunächst ein tröstender und schöner Gedanke, dass er oder sie nicht ganz verschwindet. Solange wir an unsere Verstorbenen denken, bleiben sie auf eine Art für uns lebendig. Doch was ist, wenn die Erinnerung immer blasser wird? Sterben sie dann etwa noch mehr als sowieso schon?

Mir jedenfalls hat dieser Gedanke in der Zeit nach Julians Tod große Angst bereitet. Es war schon mehr als schlimm genug, dass er als realer Mensch nicht mehr an meiner Seite war, nicht mehr greifbar, ich nichts mehr mit ihm gemeinsam erleben konnte. Der Gedanke, dass ich vielleicht irgendwann vergessen könnte, wie er aussah, wie er geredet hat, was ihn ausgemacht hat, was wir uns gegenseitig erzählt und gemeinsam erlebt haben, war ganz unerträglich für mich. Ich wollte jedes noch so kleine Details bewahren, wollte nicht, dass die Zeit vergeht, weil jeder Tag mich wieder einen Schritt weiter von ihm, von unserem gemeinsam Leben entfernen würde. Ich wollte nicht, dass er auch aus meinen Gedanken und damit noch endgültiger aus diesem Leben verschwindet. Menschen sagten mir, es würde noch so viel warten auf mich in diesem Leben, doch ich wollte es nicht. Ich wollte, dass das Leben stehenbleibt, auch wenn es zugleich so schmerzhaft und oft unerträglich war in dieser Zeit. Ich wollte nicht einmal, dass es mir besser geht, denn ich hatte Angst, dass das bedeuten würde, dass ich Julian dann vergessen hätte. Wie könnte es mir denn auch sonst besser gehen? Ich wollte mich wehren gegen diese blasser werdenden Erinnerungen, doch ich wusste nicht wie. Egal was ich versuchte, die Zeit konnte ich jedenfalls nicht anhalten. Und dann war er doch auch immer derjenige mit dem guten Gedächtnis gewesen. Nun musste ich mir alles alleine behalten und konnte ihn nicht mehr fragen. Ich wünschte, er wäre wenigstens nicht so plötzlich gestorben und ich hätte noch jede einzelne kleine Erinnerung aus ihm “herauspressen” und auf irgendeine Art konservieren können bevor er gegangen ist. Jetzt waren seine Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit bereits unwiderruflich gelöscht und auch meine wurden blasser. Oft war ich unsicher, ob manche Dinge wirklich so gewesen waren, wie ich sie jetzt vor meinem inneren Auge sah. Zwischendurch hatte ich sogar das Gefühl, er würde mir ganz entgleiten, wie als würde er Stück für Stück ausgelöscht in meinem Gehirn.

Ich habe dann gelernt, dass es ganz normal ist, dass die Erinnerung manchmal nicht abrufbar ist und weit entfernt scheint. Das bedeutet nicht unbedingt, dass sie ganz weg ist. Sie kann sich verändern, ja, aber sie wird nicht ganz vergehen. Einzelne Details aus der gemeinsamen Zeit verschwinden womöglich, aber das wirklich Wesentliche bleibt. Die Person selbst werden wir nicht vergessen. Nach viereinhalb Jahren ist Julian auf so natürliche Art in meinen Erinnerungen präsent wie es auch andere Menschen sind, die ich lange nicht gesehen habe. Wenn ich möchte, kann ich ihn in Gedanken ganz nah zu mir holen und weil ich das weiß und darauf vertrauen kann, gibt es nun auch wieder Raum für neue Gedanken, neue Erlebnisse und neue Erinnerungen mit anderen Menschen. Es gibt Raum für neues Leben. Es stellt keine Bedrohung mehr für Julian dar – weder in meinem Kopf, noch in meinem Herzen. Egal was kommt, er und unsere gemeinsame Zeit werden dort immer einen besonderen Platz haben, immer lebendig bleiben. Wenn ich die Augen schließe und mich einen Moment auf ihn konzentriere, dann kann ich seine Gestalt erkennen, so wie er war, und ich kann fühlen wie sich seine Präsenz angefühlt hat. Vielleicht magst du es auch einmal versuchen: Schließe die Augen, nimm ein paar ganz bewusste Atemzüge. Und dann stelle dir vor, wie dein lieber Verstorbener auf dich zugelaufen kommt. Vielleicht ganz weit aus der Ferne, vielleicht ist er auch bereits ganz nah. Vielleicht geht er ein paar Schritte in deine Richtung, vielleicht bleibt er zunächst weiter entfernt. Nimm wahr wie er oder sie läuft, sich bewegt, auf seine oder ihre ganz eigene Art. Kein anderer Mensch bewegt sich genau wie er oder sie. Nimm wahr, wie er oder sie in dir präsent wird. Vielleicht kannst du das Gesicht erkennen, die Hände oder eine ganz bestimmte Geste. Du kannst diese Wahrnehmung einige Minuten lang genießen bis es Zeit ist, sie wieder gehenzulassen. Nimm noch einmal einige ganz bewusste, vertiefte Atemzüge und komm wieder ganz im Hier und Jetzt an. Du weißt, dass das Bild für den Moment blasser wird und doch in dir, in deinem Körper präsent bleibt. Vielleicht in deinem Herzen, vielleicht auch an einem anderen Ort in dir. Vielleicht klappt es mit dieser kleinen Übung heute, vielleicht klappt es jetzt gerade auch nicht. Beides ist okay. Selbst wenn du deinen lieben verstorbenen Menschen gerade nicht innerlich sehen kannst, ist er immer da, immer ein Teil von dir. Du kannst dich immer mit ihm verbinden. Probiere es aus, wenn du magst.

Es sind Übungen wie diese, die mir auf meinem Weg geholfen haben. Ganz bewusstes Erinnern. So schmerzhaft das anfangs auch gleichzeitig war. Denn am Anfang bringt jede noch so schöne Erinnerung den Schmerz gleich mit. Im einen Moment fühlt es sich schön an, sehen wir den lieben Menschen direkt vor unserem inneren Auge, bemerken wir vielleicht sogar ein kleines Lächeln bei dem Gedanken an diesen schönen vergangenen Moment. Und in der nächsten Sekunde durchfährt uns der Schmerz der Realisierung, dass all dies nun für immer vergangen ist. Diesen Moment kann uns keiner nehmen und doch wünschen wir uns nichts mehr, als neue Momente dieser Art erleben zu dürfen. Irgendwann verändert es sich. Vielleicht wird die Zeit vom Lächeln zum Schmerz länger, vielleicht kommen irgendwann erste Erinnerungen, bei denen wir nur Freude empfinden, Freude und Dankbarkeit über diese gemeinsame Zeit. Und dann kann es trotzdem an einem anderen Tag wieder wehtun. Es wäre ja auch irgendwie komisch, wenn es nicht so wäre, schließlich vermissen wir diesen wunderbaren Menschen ja in unserem Leben. Ich halte die bewusste Arbeit mit Erinnerungen jedenfalls für sehr wichtig. Hierfür gibt es so viele Möglichkeiten. Sich den Verstorbenen bewusst vor dem inneren Auge vorstellen, so wie ich es oben beschrieben habe. Oder ein Erinnerungsbuch anfangen und einfach alles hineinschreiben, was dir einfällt. Das können ganz winzig kleine Erinnerungen sein, so etwas wie “Ich erinnere mich daran wie du mir eine Suppe gekocht hast.” So sind es doch genau diese scheinbar kleinen, belanglosen Dinge, die einen Menschen wirklich ausmachen. Du kannst auch alle Orte, an denen ihr wart, alle gemeinsam besuchten Kinofilme oder was immer ihr gerne gemeinsam gemacht habt auflisten. Ich habe zum Beispiel gleich am Anfang alle „Insider“ aufgeschrieben, alle möglichen kleinen Dinge, von denen nur wir beide wussten, was gemeint ist. Fotos sind ebenfalls eine gute Möglichkeit, Erinnerungen zu bewahren. Du kannst für dich herausfinden, was dir gut tut. Beschäftige dich mit deinem lieben verstorbenen Menschen auf deine Art und Weise. Schreiben, Fotobücher erstellen, besondere Gegenstände in einer Schatztruhe sammeln. Alles, was für dich hilfreich ist, ist gut. Auch wenn dabei womöglich viele Tränen fließen, auch das ist okay. Versuch dir ganz bewusst und vielleicht ganz regelmäßig Zeit für deine Trauer und für deine Erinnerungen zu nehmen. Auch später wirst du dich darüber freuen, wenn dir diese kleinen Erinnerungsschätze in die Hände fallen. Wenn ich heute mein Erinnerungsbuch in die Hand nehme und nur ein paar Zeilen darin lese, wird Julian sofort ganz präsent für mich. In unserem Gehirn ist alles netzwerkartig abgespeichert und so reicht oft eine ganz kleine Erinnerung, um noch viele weitere vor dem inneren Auge präsent werden zu lassen. Es geht hier übrigens nicht um Perfektion oder um die möglichst schnelle Fertigstellung. Mein Erinnerungsbuch hat nach wie vor viele weiße Seiten und viele Fotos, die ich eigentlich längst einkleben wollte, liegen noch als Stapel in einer Box. Wer weiß, vielleicht ist es irgendwann an der Zeit, es zu vollenden. Vielleicht ist es aber auch genau so gut in dieser Unvollkommenheit, die für mich auch das Leben und unsere gemeinsame Zeit widerspiegelt. Auf eine Art vollkommen in der Unvollkommenheit.

Nun interessiert mich natürlich, wie du dich an deine Verstorbenen erinnerst. Kennst du die Angst, sie zu vergessen? Wie gehst du damit um? Wie sieht für dich bewusstes Erinnern aus, was hat dir vielleicht geholfen bisher auf deinem Weg des “Nicht-Vergessens”? Ich freue mich wie immer auf deine Kommentare!

Geholfen haben mir beim bewussten Erinnern neben meiner Therapeutin und Trauerbegleiterin die Übungen in den Büchern von Roland Kachler. Später habe ich die tolle Arbeit von Vergiss mein nie entdeckt – Madita und Anemone widmen sich dem Thema Erinnerungen auf ganz erfrischend-liebevolle, kreative Art und Weise.

Foto: Julian. ♥

5 Gedanken zu „Ich will dich nicht vergessen – Wie Erinnerungen in der Trauer helfen“

  1. Liebe Silke,
    danke für deine berührenden Zeilen… Ich erinnere mich…
    Es gab eine Zeit, da hatte auch ich Angst, zu vergessen, Erinnerungen nicht mehr wiederfinden zu können… Das hat mich richtig panisch gemacht :0(
    Ich habe hier im Zimmer ein Foto von Andreas stehen… Ich schaue es nur sehr selten überhaupt bewusst an (jetzt gerade doch mal ;0)… Es zeigt ja nur einen Bruchteil von seiner Person, seiner Persönlichkeit. Aber beim Anschauen erinnere ich mich an alles (najaaaa, fast alles), was an dem Tag so passiert ist. Ich kann ganz viele Bilder und Eindrücke von ihm abrufen, die sicher nicht ausschließlich von diesem Foto-Tag stammen.
    So reicht es vollkommen aus, dass dieses Bild dort steht – ab und an wandern meine Gedanken in Erinnerungen…
    In meiner „panischen Zeit“ hat mir eine Übung geholfen, die Eva Terhorst (https://das-erste-trauerjahr.de/) mir übermittelt hat. Sie stammt auch von Roland Kachler und hat mir geholfen, mich auf Erinnerungen zu fokussieren… Sie sind alle da, die Panik war vollkommen unbegründet…
    Sehr berührt hat mich dein Gedankenfluss zu den Erinnerungen, die der Verstorbene nun mit sich genommen hat. Kein Austausch mehr, kein gemeinsames Erinnern… Schnief…
    Aber letztlich wären es doch wieder seine Erinnerungen… Und das, was wir daraus machen, ist dann unsere Interpretation davon… Es ist also „nur“ ein Schatz verloren, der uns nie gehörte. Und etwas, das uns nicht gehört, kann auch nicht verloren gehen, oder?
    Wie auch immer ist da ein großer Schatz an Erinnerungen in mir, in dir, in jedem Trauernden. Ausbuddeln, heben und genießen…!
    Herzliche Grüße
    Anja

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    • Danke dir, liebe Anja, für deinen Kommentar. Wie schön, was du von Andreas‘ Bild schreibst. Du hast mich daran erinnert, dass ich Julians Bild, das hier neben mir hängt, auch mal wieder bewusst ansehen könnte 🙂 Ohja, es stimmt, ein einziges Bild reicht aus, um so viele kleine Erinnerungen nach oben zu holen. Wie schön ♥

      Danke für deine Gedanken zu meinem Gedankenfluss 😉 Wie wahr, es ist ein Schatz, der uns nie gehörte. Irgendwo bleibt er wohl irgendwie auf eine Art bewahrt. Er ist nur eben nicht auf die Art wie sonst „abrufbar“ mit einer einfachen Frage wie „Duu, Schatz, sag mal, wie war das noch mal..?“ Ich habe da lange nicht drüber nachgedacht und bin selbst erstaunt gerade, dass dieser Gedanke zumindest hier und jetzt gerade gar nicht mehr wehtut. Das hätte ich vor vier Jahren niemals gedacht, dass das mal möglich sein könnte.
      Ich habe meine eigenen Erinnerungen und das allein ist ein so großer Schatz – ich stimme dir da voll zu. Danke für deinen energievollen letzten Satz 🙂 Vor allem genießen, mit Leichtigkeit und Freude erinnern. Und wenn Tränen kommen, ist auch das okay ♥
      Liebe Grüße
      Silke

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  2. Liebe Silke,
    vielen Dank für deine Zeilen, die mich sehr berührt haben. Ich habe vor 2,5 Jahren meinen Seelenmenschen – meine Mama verloren. Sie war der Mensch, der es in meiner Kindheit geschafft hat, jeden Schnupfen, Husten, jedes Kranksein so angenehm wie möglich zu gestalten. Es gab eine Menge Kinderhefte und den großen Fernseher, der dsnn in mein Zimmer gestellt wurde. Daneben stand dsnn ein Teller mit Bananenstückchen; jedes einzelne liebevoll mit Nutella bestrichen 😀

    Jetzt liege ich gerade neben meinem 9 Monate alten Sohn und neben all diesen wunderbaren Erinnerungen, die in ihrer Tragweite auch mein heutiges Händeln beeinflussen weiß Ich, jetzt bin ich die Mama, die zukünftig die Bananenstückchen mit Schokocreme verfeinern wird.
    Und dsnn werde ich ganz wehmütig, weil meine Mama gerne Oma geworden wäre, aber nie hat erfahren können, wie es sich wirklich anfühlt.

    Trauer hat – wie du das so schön beschrieben hast – nicht nur mit Traurigkeit oder traurig sein oder trauern zu tun. Erinnerungen Schmerzen nicht nur, sondern schmiegen einen auch in ein wohlig warmes Gefühl der Geborgenheit.
    Was ich damit meine: als meine Kindheit grob vorbei war, gab es keine Bananen während des Krankseins mehr und auch der Fernseher würde nicht mehr hereingetragen. Aber ich habe es als Jugendliche schon nicht als tiefen Verlust empfunden, sondern eben als schöne Erinnerung behalten. Nun ist mein Seelenmensch nicht mehr da, wie warme Erinnerung bleibt und wird nur durch den Verlust des Menschen schmerzhaft. Ich versuche seit dieser Erkenntnis zwischen ’schöner Erinnerung‘ und ‚Trauerschmerz‘ zu trennen, denn sonst konditioniere ich mich jedes Mal auf Erinnern =Schmerz (und das führt zur Verdrängung).

    Nun, wie dem auch sei, wünsche ich dir auf deinem persönlichen Weg alles erdenklich Liebe und Gute!

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    • Liebe Anne,
      vielen lieben Dank für deinen so liebevollen Kommentar. Mir wird ganz warm ums Herz, wenn ich ihn lese. So viel Liebe strömt zwischen den Zeilen hervor und es berührt mich, wie du nun selbst die Mama bist und deinem Sohn das weitergibst, was deine Mama an Erinnerungen in dir hinterlassen hat. Ein schöner Gedanke, die Erinnerungen ganz bewusst vom Trauerschmerz zu trennen und so auch die Erinnerungen als schön wahrnehmen und bewahren zu können.
      Alles Liebe auch für dich weiterhin
      Silke

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