Trauer braucht keinen Tod

In meinen Texten über die Trauer beziehe ich mich so oft auf den Tod. Auf meine Trauer um Julian, weil sie der Grund dafür war, dass ich begonnen habe, mich damit auseinanderzusetzen. Und weil ich es wichtig finde, dass wir über den Tod sprechen. Einfach weil er sowieso da ist und wir uns das Leben unnötig schwer machen, wenn wir versuchen, um ihn herum zu leben. So habe ich es zumindest erfahren. In letzter Zeit merke ich immer häufiger, dass ich auch anders über die Trauer sprechen möchte. So oft wird sie nur mit dem Tod in Verbindung gebracht. Dabei kann sie so viele Auslöser haben. Der Tod ist nur einer davon – wenn auch ein ganz besonderer, der meist eine sehr intensive Form der Trauer nach sich zieht und viele weitere große Fragen aufwirft. Die Trauer selbst ist einfach bloß unsere ganz natürliche Reaktion auf Verluste. Egal welche. Selbst bei kleinen Verlusten im Alltag trauern wir – manchmal ganz ohne es zu bemerken. So ist Trauer immer ein Teil unseres Lebens. Das macht sie nicht weniger schmerzhaft. Sie ist ein so wichtiger Teil und zugleich einer, der so oft übergangen wird. So oft wollen wir diese Gefühle nicht haben, wird Trauer als Schwäche gesehen oder zumindest als etwas, das schnell vergehen soll. Positiv denken. Nach vorne sehen. Stell dich nicht so an. Leben geht weiter. Das stimmt, es geht weiter, aber es darf auch für einen Moment stehenbleiben. Verluste erleben wir immer wieder. Sie gehören zum Leben dazu. Trennungen, Kündigungen, Umzüge, beendete Freundschaften, ungeborene Kinder, verpasste Chancen, geschlossene Lieblingscafés, vorbeigehende Sommer. Selbst bei ganz positiven, von uns gewünschten Veränderungen gibt es immer auch etwas, das wir zurücklassen. In jeder Veränderung steckt auch ein Verlust. Und dieser will betrauert werden. Wird er das nicht, stauen sich die Gefühle irgendwo an. So war es bei mir bis ich dank Julians Tod gelernt habe, sie zu fühlen.

Seitdem ist und bleibt Trauer ein ganz natürlicher Teil meines Lebens. Und das ist auch gut so. Ich trauere nicht mehr so sehr um Julian, aber ich empfinde immer wieder Trauer auf meinem Weg. Es ist immer wieder ein Hin und Her zwischen Freude und Traurigkeit und allem, was dazwischen liegt. Bei allem, was ich tue, nehme ich mir immer wieder Zeit zu fühlen. Für beide Seiten der Gefühlspalette.

Und so wird mir heute noch einmal ganz bewusst, wie wichtig es ist, dass Trauer laut werden darf. Und zwar nicht erst, wenn ein Mensch gestorben ist. Trauer darf immer laut sein. Allein du bestimmst, worüber du trauerst und wie du deine Trauer zum Ausdruck bringen möchtest. Niemand sonst kann dir sagen, welche Dinge es „wert“ sind, betrauert zu werden.

Ich trauere heute um meinen wundervollen Sessel, der vergangene Woche abgebrannt ist. Ich habe ihn vor bestimmt 20 Jahren gekauft. Er war nicht der Schönste und auch nicht der Teuerste, aber er war mit Sicherheit einer der bequemsten Sessel, die es gibt. In den letzten Monaten war er mein Wohlfühlort. In ihm sitzend habe ich einen Großteil meines Buchs geschrieben. Jetzt ist er weg und ich bin traurig. Ja, mein Sessel hinterlässt eine Lücke hier im Raum.

Worüber trauerst du heute? Vielleicht ist es „nur“ eine kleine Sache, die dir heute im Alltag begegnet ist. Vielleicht ist es auch ein sehr großer, schwerer Verlust. Lass uns bewusst werden darüber, dass jeder Verlust einen Moment der Trauer mit sich bringt. Und lass uns diesen Moment umarmen als Teil unseres Lebens. Unabhängig davon, wie lange er dauert. Nicht als Problem, sondern als Lösung für den Umgang mit diesem Verlust, wie es Chris Paul so schön beschreibt in ihren Büchern. Lass uns fühlen, was im Hier und Jetzt gefühlt werden will. Innehalten bevor wir uns wieder hinein begeben, in das schnelle, laute Leben. Lass uns hinausschreien, was hinausgeschrien werden will. Und still erfühlen, was keine Worte braucht. Lass uns Trauer annehmen in all ihren Facetten, lass sie uns willkommen heißen in unserem Leben.

Nachtrag: Mir ist durch eure Kommentare bewusst geworden, dass man diesen Beitrag womöglich falsch verstehen kann. Ich möchte es nur noch einmal ganz klar sagen: Natürlich ist die Trauer nach dem Tod eines lieben Menschen etwas ganz Besonderes, natürlich ging es mir hier nicht darum, den Verlust eines Sessels mit dem eines Menschen zu vergleichen. Und genau das ist es ja auch, es geht einfach nicht um Vergleiche. Für mich ist es so klar, dass der Tod eines lieben Menschen natürlich eine viel längere und schmerzhaftere Trauerzeit mit sich bringt, dass ich es hier gar nicht mehr extra erwähnt habe. Und doch ist Trauer eben diese urmenschliche Erfahrung. Und darf immer gefühlt werden. Bei einem kleinen Verlust dauert sie vielleicht nur einen winzigen Moment. Und doch ist sie da. Weil sie nichts Falsches, Krankes, Schlimmes ist. Und sie darf gefühlt werden. Schon im Kleinen darf sie gefühlt werden.

9 Gedanken zu „Trauer braucht keinen Tod“

  1. TRAUER ist mir als Reaktion auf die Verluste, die das Leben so mit sich bringt, obwohl ich „traurig“ bin, zu groß. TRAUER ist für mich (immer noch) für meinen größten Verlust, den meiner Frau, vorbehalten. Auf einer „Trauerskala“ von 1 – 10, wäre für mich der Verlust meines Lieblingssessels heute bei vielleicht 5, morgen bei 2 und in drei Tagen bei 1. Der Verlust meiner Frau ist heute, nach 14 Monaten bei 9.

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    • Ja, lieber Bertram, natürlich unterscheiden sich die Verluste und damit auch die Intensität der Trauer. Und doch ist es für mich immer Trauer. Mir ging es nicht um einen Vergleich, sondern eher darum aufzuzeigen, dass Trauer etwas ganz Natürliches ist, unsere Reaktion auf Verluste. Und natürlich hat sie beim Verlust eines geliebten Menschen durch den Tod ein ganz anderes Ausmaß.

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      • O.k.. Einverstanden. Buddha, hat diese Erkenntnis schon vor über 2.500 Jahren in der ersten der „Vier edlen Wahheiten“ (sinngemäß: Das Leben ist Leid) formuliert.

        Man sagt mir nach (leider) ich sei ehrlich bis hin zur Taktlosigkeit. Deshalb: Hätte ich Deinen obigen Beitrag kurz dem Tod meiner Frau gelesen – ich hätte Deine Seite nicht mehr besucht. Es hätte mir einfach nichts gebracht. Diese allgemeinen Weisheiten, so richtig sie sind, waren in diesem Moment nur oberflächlich und nicht hilfreich. Genau das habe ich nicht gebraucht!

        Man kann sich in einem Thema auch „verzetteln“.

      • Ja, das verstehe ich, lieber Bertram. Wahrscheinlich wäre es mir selbst genauso gegangen.
        Ich danke dir da für deine Ehrlichkeit. Tatsächlich war es nicht als allgemeine Weisheit gemeint. Mein Gedanke dahinter war eher, dass es eben immer ums Fühlen geht. Und wenn wir uns das im Kleinen schon nicht erlauben, dann ist es auch bei großen Verlusten noch schwerer. Und das meine ich jetzt eher so im Großen gesehen als für den Einzelnen betrachtet.
        Und dass Trauer eben nichts schlimmes, falsches, krankes ist, sondern wirklich diese ganz wertvolle Fähigkeit, mit Verlusten jeder Art umzugehen. Trotzdem tut sie halt scheiß weh. Aber das sind alles Gedanken, die direkt nach dem Tod eines lieben Menschen total egal sind. Der Beitrag ist aus mehreren Gesprächen hintereinander entstanden, bei denen mir Menschen, die so einen schweren Verlust noch nicht erlebt haben, erzählten, dass sie viele Gefühle in meinem Buch dennoch so sehr nachempfinden konnten. Weil Trauer eben nichts ist, was nur durch Tod ausgelöst wird.
        Aber, wie gesagt, dennoch ist es natürlich eine ganz andere Intensität, keine Frage.
        Und ja, Buddha wusste das auch schon.

  2. Liebe Silke,
    mit einem Gegenstand kann ich nicht kommunizieren, es kommt keine Liebe zurück sondern ich benutze ihn wenn ich ihn brauche. Geht er kaputt ärgere ich mich und bin vielleicht ein bisschen Traurig, weil es ein Geschenk war.
    Bein Verlust eines ganz lieben Menschen, und erst Recht beim Tod eines geliebten Partner ist das etwas Anderes. Das ist tiefe Trauer, bestehend aus ganz vielen Traurigkeiten. Am Anfang der Trauer überrennen Dich die Traurigkeiten aber mit der Zeit werden die Traurigkeiten weniger und die Zeit mit ihnen wird kürzer. Aber die Trauer bleibt ganz tief, weil es immer noch Traurigkeiten gibt.
    Silke, Du hast bestimmt eine besondere Beziehung zu diesem Sessel. Du hast darin mit Deiner Trauer gearbeitet und hast darin Dein Buch geschrieben. Sicher ist es ein Verlust, aber deshalb Trauer verspüren?
    Es kann sein dass Du das auch eher als Metapher meintest.
    Für mich gibt es nur einen Grund für Trauer. Das ist der Tod meiner Frau vor 15 Monaten.
    Jeder andere materielle Verlust ist Pech.
    Liebe Grüße

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    • Lieber Andreas,
      natürlich ist die Trauer nach dem Tod anders. Das habe ich vielleicht nicht so deutlich geschrieben, weil es in meinem Kopf sowieso klar war. Mir ging es nicht darum, etwas zu vergleichen, das nicht vergleichbar ist. Und doch bleibe ich dabei, dass Trauer diese urmenschliche Erfahrung ist und nicht allein mit dem Tod zusammenhängt, sondern allgemein mit Verlusten. Mein Sessel war ein banales Beispiel, natürlich. Ich finde aber, es geht doch immer ums Fühlen. Und das ist doch gerade das Schwierige in der Trauer um einen geliebten Menschen. Dass dafür so wenig Raum gegeben wird. Mein Gefühl ist, dass das schon viel früher anfängt, nämlich wenn wir als Gesellschaft schon gar nicht erst erlauben, dass wir nach Verlusten egal welcher Art auch trauern, traurig sind, einen Moment des Innehaltens brauchen und uns nehmen. Dieser Moment ist bei einem Sessel nur sehr kurz und doch ist er eben da. Darum geht es mir. Wir sind fühlende Wesen und dürfen unsere Gefühle fühlen – so wie sie gerade da sind.

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  3. Lieber Andreas, lieber Bertram,
    ich kann eure Reaktionen verstehen. Und gleichzeitig finde ich Silkes Beitrag so wichtig, dass eben nicht nur der eine riesige furchtbare Verlust betrauert werden darf.
    Ich hatte als Kind ein Meerschweinchen. Als es starb, war ich sehr traurig und habe geweint. Meine Mutter sah es und sagte „Wenn du wegen dem Vieh so ein Theater machst, kriegst du nie wieder eins“
    Das hat mir weh getan und natürlich nicht dazu geführt, dass ich weniger traurig war. Ich habe nur meine Gefühle versteckt. Lange Zeit fand ich ihre Reaktion sehr herzlos. Bis ich irgendwann verstanden habe, dass sie in den Wirren des zweiten Weltkriegs nicht einmal Zeit hatte um den Tod ihres Vaters zu betrauern, der vor ihrem Haus erschossen wurde. Und ich nahm mir heraus, um ein einfaches Meerschweinchen trauern zu wollen?!??
    Natürlich ist der Verlust des Partners oder des Vaters eine ganz andere Nummer. Aber ich glaube tatsächlich, dass es uns selbst und anderen nicht gut tut, wenn wir uns Trauer im kleineren nicht mehr zugestehen – im Angesicht dieses einen übermächtigen und furchtbaren Verlustes.

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  4. Hallo zusammen liebe alle,

    ich kann auch die Trauer verstehen, welche Silke meint. Es ist, dass Trauer da sein darf, egal um was getrauert wird, ohne BEWERTUNG, und vor allem, dass es sehr gesund ist, diese zuzulassen und nicht herunterzuschlucken. Als ich 19 war, ist mein Hund weggelaufen, den ich 10 Jahre zuvor zu Weihnachten bekam. Mein bester Freund war weg und kam nicht wieder. Ich weiß bis heute nicht, was passiert ist. Diese Trauer schmerzt bis heute und ich träume regelmäßig von meinem Hund: Dass er gefunden wurde und die Zeitungen berichten: Hund nach 12 Jahren wieder beim Herrchen.
    Mit 19 trauerte ich anders und ich habe diesen Verlust nicht bewältigt, daher die Träume.

    Doch auch die andere Trauer kenne ich, die alles andere in den Hintergrund stellt. Der tiefe Verlust eines geliebten Menschen. Doch Trauer, egal welche, darf da sein und will gefühlt werden.

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  5. hallo silke, ich verstehe sehr gut was du meinst und ich finde es sehr schön ganz bewusst zu sagen, trauer darf immer da sein, weil wir menschen oft dazu neigen uns solche gefühle abzusprechen, als lächerlich abzutun und das sollte denke ich nicht so sein, da sie sich dann beginnen wo festzusetzen. wenn man trauer (oder traurigkeit) einfach in dem moment wahrnimmt, wo und wie sie ist, sie vielleicht symbolisch begrüßt und sein lässt, dann vergeht sie auch wieder, kommt vielleicht nochmal in kleineren wellen… aber wenn wir das nicht tun, weil uns der anlass zu lächerlich, zu banal vorkommt, dann wird sie nur weggesperrt und bleibt aber in der intensität, in der wir sie nicht zulassen wollten.
    zumindest ist das meine erfahrung.
    alles liebe und danke für den schönen text!

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