So viele Gefühle
Gedanken zu Trauer, Tod & Leben

So viele Gefühle

Traurigkeit, Freude, Angst, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Dankbarkeit, Einsamkeit, Schmerz, Wut, Leere, Glück und Liebe – all diese und noch mehr Gefühle wechseln sich in der Trauer ab, sind manchmal gleichzeitig da oder brechen kurz hintereinander über uns herein. Eine kurze Erinnerung an einen schönen Moment lässt uns tiefe Freude und wenige Sekunden später großen Schmerz empfinden. Das heißt aber nicht, dass die Freude ganz weg ist. Mich hat es anfangs sehr verwirrt, was alles gleichzeitig da sein konnte und in welcher Intensität all diese Gefühle plötzlich über mich hereinbrachen. Wie kann es sein, dass etwas so tief traurig und so wunderschön zugleich sein kann? Vor Julians Tod hatte ich nur einen Bruchteil davon wahrgenommen, mich selten wirklich auf das Fühlen eingelassen, mich lieber in meinen Verstand geflüchtet. Ganz rationale Informatikerin eben. Auch von daheim kannte ich es nicht, dass Gefühle wirklich angenommen und ausgedrückt wurden so wie sie waren. Es ging eher darum, möglichst immer zumindest äußerlich glücklich zu sein. Mit der Trauer um Julian wurden dann auch ganz alte Gefühle mit nach oben gebracht. Alte Verletzungen, Trauer, Einsamkeit. Ohne es zu merken hatte ich mich von all den tiefen Emotionen abgeschnitten, ferngehalten, mich abgelenkt und darauf konzentriert, in dieser Welt so gut es ging klarzukommen. Und immer wieder eine Leere gespürt, ein Gefühl von “Da muss doch mehr sein, irgendetwas fehlt in meinem Leben”. Gefühle lassen sich nicht verbannen, höchstens tief vergraben und wegschieben. Ein neuer Verlust, ein Schicksalsschlag, kann all das nach oben holen. Ich sehe es als große Chance, sich endlich damit auseinanderzusetzen und zu lernen, einen neuen Umgang mit Gefühlen zu finden, einen neuen Ausdruck und ein wirkliches Fühlen von dem, was gerade gefühlt werden will. Das bedeutet nicht, dass wir für immer in negativen Gefühlen verschwinden müssen. Im Gegenteil: Durch das Fühlen und Annehmen der Gefühle werden sie meist schneller als erwartet auch wieder vergehen. Und beim nächsten Mal kennen wir sie schon ein bisschen besser und können uns vielleicht noch ein bisschen mehr darauf einlassen, sie zu fühlen.
Ich beschäftige mich in einer Weiterbildung gerade damit, wie unser Körper uns dabei helfen kann, vom Denken ins Fühlen und Erleben zu kommen, wie der Körper in der Beratung und Therapie genutzt werden kann. In diesem Zusammenhang lese ich das Buch “Embodiment – Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen” von Maja Storch, Benita Cantieni, Gerald Hüther und Wolfgang Tschacher. Zum Ende ihres Kapitels über Embodiment in der Psychologie schreibt Maja Storch:

“Der Mensch hat ein unendliches Repertoire an psychischen Verfassungen und Gefühlslagen – denken Sie an die 10.000 Gesichtsausdrücke, die Paul Ekman entdeckt hat! Diese großartige Vielfalt auf ein ‘don’t worry-be happy’ Mittelmaß einzupendeln hieße die Menschheit eines Aspekts ihrer Kultur zu berauben. Derjenige Mensch ist in der Lage, ein gutes Selbstmanagement auszuüben, der den Reichtum seiner Psyche auszukosten versteht. Und zu diesem Reichtum gehört jede Art von Verfassungen, auch solche, die für andere Menschen unter Umständen unbequem sind.”

Ein ganz begeistertes JA formte sich in meinem Kopf beim Lesen. Die Vielfalt unserer Gefühle, die Bandbreite dessen, was da möglich ist, ist ein großes Geschenk – auch wenn sie für uns selbst und andere zuweilen sehr unbequem sein mögen. Ich empfinde es als große Verschwendung, als Einschränkung, wenn wir versuchen, immer nur im Mittelmaß zu bleiben. Auch wenn ich zugleich gut verstehen kann, wenn sich jemand dafür entscheidet und damit gegen allzu schmerzhafte Gefühle. Immer wieder komme ich selbst an den Punkt, an dem ich mich frage, ob es nicht einfacher wäre, wieder irgendwie zurückzufinden in dieses alte Mittelmaß der geringen Gefühlsbandbreite. Dann erinnere ich mich daran, dass diese Einschränkung bei mir zu oben beschriebener Leere und zu Erschöpfungszuständen geführt hat, die ich nie zuordnen konnte, war doch im Außen alles immer scheinbar irgendwie okay. Wie ich in einem meiner letzten Beiträge schon geschrieben habe, leben wir oft so, als müssten wir diesen einen Weg finden, diese eine Methode, die uns dabei hilft, dass endlich der Tag eintritt, ab dem alles gut ist. Der Tag, ab dem wir nur noch den positiven Teil der Gefühlsbandbreite fühlen. Und ja, ich wünsche mir das auch immer noch manchmal, auch wenn ich noch so schlau darüber schreiben kann, dass das Leben so nicht funktioniert.
Es ist nicht immer leicht, diesen Weg zu gehen, weg vom Mittelmaß, aber in meinen Augen ist es der einzige, der hin zum echten Leben führt, eben zur ganzen Bandbreite dessen, was Leben bedeutet, mitten hinein in den Reichtum der eigenen Psyche. Und so liegt in der Trauer oft so viel mehr verborgen als das, was wir zunächst in ihr sehen mögen. Sie ist Ausdruck unserer Liebe zum Verstorbenen, eine ganz wichtige Fähigkeit unserer Seele mit Verlusten umzugehen und zugleich sehe ich meine Trauer auch als ganz persönliche Lehrmeisterin über das Leben, das Fühlen und die Liebe. Denn ja, ich kann es nicht oft genug sagen, in all diesen vielen Gefühlen, die immer wieder über uns hereinbrechen und die wir lernen können anzunehmen und zu fühlen, ist es die Liebe, die uns immer wieder die Hand reicht, uns trägt und leitet.

 

Foto: Kasia – „When emotions are running wild…..“

 

   
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3 Comments

  • Reply Andreas 22. Mai 2017 at 16:24

    Hallo Silke,
    gestern war es soweit, all die Gefühle die Du in Deinem Artikel beschreibst waren auf einmal präsent. Gestern vor 6 Monaten ist Ilona gestorben. Ich war gestern nach dem Aufstehen regelrecht neben mir. Erst als ich an ihrem Grab stand, mit ihr gesprochen habe und ihr vorgelesen habe waren meine Gedanken wieder klar. Ich bin danach sehr lange spazieren gewesen. Bei jeder Blume am Wegesrand habe ich an Ilona denken müssen. Sie hat sich immer sehr über die Blumen gefreut und ihnen lustige Namen gegeben. Daran habe ich gedacht und musste lächeln. Ich bin so dankbar das ich mit dieser Frau viele schöne Jahre gemeinsam erleben konnte, dankbar das es diese Frau in meinem Leben gegeben hat.
    Die vergangenen 6 Monate reichen noch nicht aus mein Leben wieder richtig einzuordnen. Aber ich fest davon überzeugt das mir das in absehbarer Zeit gelingen wird.
    Und das wünsche ich Allen die einen schweren Schicksalsschlag erleben mussten.
    Viele Grüße Andreas

    • Reply Silke 22. Mai 2017 at 17:11

      Lieber Andreas,
      danke dir für deinen Kommentar. 6 Monate, das scheint schon so lange in Anbetracht der Tatsache wie sehr sie in deinem Leben fehlt und zugleich ist es doch so kurz in Anbetracht deines großen Verlustes. Wie berührend, traurig und schön, dass du ihr am Grab vorliest und mit ihr sprichst. Ich glaube ebenfalls und wünsche es dir, dass es dir gelingen wird, dich und dein Leben wieder neu einzuordnen – mit deiner lieben Ilona im Herzen.
      Herzliche Grüße
      Silke

  • Reply Dagmar 28. Mai 2017 at 20:55

    Liebe Silke, als Erstes möchte ich Dir für Deinen Block danken. Das du das unbeliebte Thema Tod und Trauer nicht „tot schweigst“. Es ist so wichtig, dass es Orte und Menschen gibt, mit denen man über dieses Thema reden kann. Ich möchte über meinen verstorbenen Mann reden, auch wenn eventuell dabei Tränen fließen. Ich finde es viel schlimmer, wenn alle so tun, als wäre nichts geschehen. Nur nicht dran rühren. Habe ich vor Jens Tod genauso falsch gemacht. Verstorbene haben einen wichtigen Platz in unserem Leben, sie haben uns geprägt und zu dem gemacht, der wir heute sind. Manche Probleme entstehen, wenn man versucht, die Existenz und das nicht mehr da sein dieses Menschen zu ignorieren. Das stellt sich häufig bei Familienaufstellung auch heraus. Das Gefühlschaos, dieses auf und ab, dieses mal lachen können und dann wieder im Trauerloch hängen, ich versuche es einfach zuzulassen. Mein Mann ist es mir wert. Er war die Liebe meines Lebens und ich bin nicht mehr der Mensch, der ich vorher war. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, meine Prioritäten, meine Sicht von dem was wichtig ist, haben sich total verändert. Ich fühle mich wie auf einer Reise, deren Ziel ich noch nicht kennen. Aber eines weiß ich, äußerlich bin ich noch der gleiche Mensch, aber innerlich nicht mehr.

    Liebe Grüße Dagmar

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