Neun Monate. Vor. Freude.

Ein berührender Text über die Trauer und die Liebe einer Mutter bei der Geburt ihrer schwerstbehinderten Tochter:


Elina, www.herzklang-pforzheim.de 

Statt neun Monate wurden es nur sieben.

Aus der geplanten Hausgeburt wurde eine PDA*, Saugglocke und Notfallteam, anschließend drei Monate auf der Intensivstation der Kinderklinik.

Die „große Schwester“ war vier Jahre jung, und plötzlich schien sie irgendwie steinalt. Ich auch. Ich fühlte mich wie eine Greisin. Schwerfällig. Gebückt. Niedergeschmettert.

Wochen des Bangens um deinen nächsten Atemzug. Ratlose Gesichter der Ärzte, Rätselraten über Diagnosen. Namen von Behinderungen und Krankheiten prasselten auf mich ein wie der Hagel damals in München, der meinen VW Käfer zu einem pockennarbigen Schrotthaufen gemacht hatte.

„Hallo, Kind. Hallo, mein Kind?“

Du bist so fremd.

Du bist so entrückt.

So fern und doch so nah.

So hilflos und so schwach.

Und doch atmest du seit deiner Geburt selbstständig. Das ist aber auch das einzige Lebenszeichen.

Du kannst keine Reflexe. Schlaff wie zu lang gekochte Spaghetti hängen deine Ärmchen und Beinchen herunter, wenn ich dich hochnehme. Leblos und regungslos scheinst du mit mir zu verschmelzen. Du schreist nicht, manchmal kommt ein Ton, wie ein leises Maunzen eines neugeborenen Kätzchens über deine Lippen. Das ist dann auch die erste Verdachtsdiagnose, die die Ärzte äußern „Cri-Du-Chat-Syndrom“ … die erste Diagnose von weiteren 157, die im Laufe der Jahre geäußert werden, und alle nicht zutreffen.

Du saugst nicht. Jeder Versuch, dich an die Brust zu nehmen scheitert ergebnislos. Du saugst einfach nicht. Auch nicht an einer Flasche oder einem Schnuller.

Das wird bestimmt noch. Das wird bestimmt. Das wird.

Magensonde.

Eine Schwester kommt mit einer Handpumpe und spricht mir Mut zu. Die Muttermilch hat die optimale Zusammensetzung. Wenn sie das Beste für Ihr Baby tun wollen, dann ist das Ihre Milch abpumpen, bis sie selbst trinken kann.

Ich trinke 7 Liter Fencheltee, pumpe bald einen Liter Muttermilch ab. Täglich.

Ich habe eine Aufgabe. Einen Rhythmus.

Leise Tränen kullern aus meinen Augen, wenn die Milchpumpe an meiner Brust hängt. Ich singe mich in den Schlaf.

Dich, mein Kind, versuche ich durch meine Gesänge aufzuwecken.

„Schlaf, mein Kindchen schlaf‘ ein“ – nein, bloß nicht. „Wach auf, mach die Augen auf, hallo mein Kindchen, hier bin ich, ich will dich nicht verlieren, ich will dich aufwachsen sehen, deinen ersten Schultag erleben und deine Schultüte basteln, Geburtstagskuchen backen und deine verschmierte Schokoschnute abputzen, mich aufregen über deine Handpatscher auf meiner Hochglanz-küchenfront, Flecken auf meinem Teppich. Eine Göre in der Pubertät. Erste Periode. Erster Freund.“ Ich will. Ich. Will. Was will ich?

Du machst deine Augen nicht wirklich auf. So ein bisschen vielleicht, als ob du mal in die Welt schielst und das was du siehst dir nicht wirklich gefällt, als ob es sich nicht lohnt die Augen aufzumachen.

Wirst du sie wieder für immer schließen?

Ich bange um dich. Ich fürchte mich vor der nächsten Sekunde. Ich will das alles nicht. Ich will dich nicht verlieren, bevor wir uns richtig kennengelernt haben. Das geht doch nicht. Du kannst doch nicht hier auf die Welt kommen um wieder zu gehen. Das GEHT nicht! Dass das theoretisch geht und weltweit ständig passiert, das ist die Theorie. Ich will keine Praxis! Ich will nicht!

Ich bin müde. So müde. Müde.

Die Tage verwischen. Tag und Nacht verwischt. Ich bin nur noch müde und verbinde mich im Rhythmus der Milchpumpe, 7-mal täglich oder ist es auch nachts? Ich weiß es nicht. Es hat alles seine Bedeutung verloren. Es hat Bedeutung verloren. Es hat. Verloren.

Ich habe verloren. Meine Naivität. Meine Unbekümmertheit. Mein Lachen. Das einzige was geblieben ist, ist das Singen. Und Du, mein Kind. Immer noch atmest du. Immer noch. Immer wieder.

Das freut und erstaunt die Ärzte, die sich immer noch keinen Reim darauf machen können, was du hast. Warum du so bist, wie du bist.

Warum bist du? Warum?

Die anfänglichen besorgten Anrufe der Freunde werden immer spärlicher. „Ach so, immer noch unverändert. Nun ja, dann melde ich mich mal wieder, gute Besserung…“ Irgendwann meldet sich niemand mehr. Aus und Schluss. Ich habe keine Kraft mich dagegen aufzulehnen.

Gute Besserung? „Was, wenn das niemals besser wird? Wäre es dann nicht besser…“, höre ich von immer mehr Seiten. Das will ich nicht hören.

„Konnte man das heutzutage nicht vermeiden? Es gibt doch so gute Pränataldiagnosik…“ Das will ich auch nicht hören (später, als deine Diagnose dann klar ist, PWS*, bist du 18 Monate, und NEIN, man hätte es nicht testen können, vorher) …

Ich funktioniere wie eine Maschine, wie die Milchpumpe, die in ihrem Schlupp-Schlupp-Schmatzgeräusch die Muttermilch aus mir saugt, und mit ihr all meine Energie und Kraft. Ich singe leise Trauerlieder, laute Klagelieder, töne und summe – alles, nur damit ich nicht verstumme.

Voll. Lauter. Trauer.

Voll. Lauter. Liebe.

Ich horche und schweige in die Wortlosigkeit hinein, ins Unsagbare. Diese Ungewissheit aushalten. Ich bleibe bei dir wider alle Vernunft, die sagt: “Lauf weg soweit du kannst, dreh‘ dich nicht um, es hat doch keinen Sinn zu bleiben…“

Diese unendlich zärtliche Liebesbande spüren, die Nabelschnur die uns verbindet, rührt mich ständig zu Tränen. Wenn ich dich ansehe, staune ich über das Wunderwerk, welches du bist. Du bist so schön. So zart, so zerbrechlich. Nein, zerbrechlich nicht, du bist ja eher wie eine flexible Gummipuppe, aber doch zerbrechlich im anderen Sinne. Ich möchte ständig an dir schnuppern, dich atmen fühlen – das einzige Zeichen, dass du noch lebst. Wenn du auf meiner Brust ruhst, dann kann ich die Augen schließen und dich einfach nur spüren. In deinem Rhythmus mit atmen. Das tut gut. Die einzigen Momente, wo ich mir keine Sorgen und Gedanken darum mache, ob du noch immer atmest, sind diese Zeiten der Zweisamkeit.

Als sich nach Wochen dein Zustand nicht ändert, beginnen die Ärzte mit Untersuchungen um eine Diagnose zu finden. Wir haben ein wunderschönes Einzelzimmer auf der Intensivstation mit Balkon. Die Ärzte haben mich ermuntert, jeden Besuch, den ich möchte, solange ich möchte, zu empfangen (über den Balkon können alle hinein und hinaus, ohne über die Station zu müssen). Denn man wisse ja nicht, wie lange …. Aber Besuch macht sich rar. „Das kann man wirklich nicht aushalten, sorry – tut uns Leid, das ist schon schwer für dich, ich würde das nicht schaffen. Wie lange meinen denn die Ärzte…?

Wie lange? Wie? Lange?

Darf man traurig sein, wenn das Kind doch lebt? Es ist ja da. Irgendwie.

Da und irgendwie doch dort. Woanders. Wo? So ganz anders, wie die anderen Babys sind bist du.

Ein stilles Baby. Kein Laut.

Fast muss ich schmunzeln bei dem Gedanken, dass eine Mama sich wünschen kann, das Baby würde doch mal endlich losschreien.

Meine Ruhe haben. Das wollte ich nicht.

Wirklich nicht!

Bist du lebendig, weil du atmest? Du bist lebendig, weil du atmest.

Ich spüre auf meiner Brust liegend deine regelmäßigen Atemzüge. Ein und Aus. Ein und aus. Das ist doch Leben! Das ist Leben? Das ist Leben!

Leben!

Was für ein Leben?

Ich versuche zu essen, vergesse es oft. Das Trinken geschieht mechanisch, muss ich, weil ich stille. Ich weiß. Ich esse und trinke gesunde Sachen. Möchte ich, weil ich stille. Ich bin stolz, dass ich stille.

„Du stillst nicht, du pumpst ja immer ab. Das ist doch komisch. Warum tust du das, das ist unnatürlich.“ Unnatürlich? Natürlich ist Muttermilch das Beste für Neugeborene. Das weiß doch jeder. Immer wieder versuchen die Schwestern dich anzulegen. Aber du hast keine Reflexe, auch keinen Saugreflex. Obwohl dein Gehirn ganz normal ausgebildet ist, das haben die Ärzte inzwischen auch untersucht.
Du bist offensichtlich kerngesund. Im Kern gesund. Deine Verdauung klappt ganz normal. Du wächst zwar langsam, aber stetig und nimmst auch gut zu.

Ich bin stolz auf meine Milch. Das Abpumpen ist mein Geschenk an Dich, mein Kind. Für Dein Leben. Ich würde mein Leben für das Deine geben. Ich nehme ab und du nimmst zu. Ich fange ganz langsam verschwinden. Die Ärzte schlagen eines Tages Alarm und bringen es mir ins Bewusstsein.

„Ihre Tochter braucht Sie, wer weiß, wie lange noch. Sie nützen ihr nicht, wenn Sie sich in Luft auflösen.“

Jetzt soll ich auch noch an mich denken. Ich kann gar nichts mehr denken. Ich bin zu müde. Bin müde. Ich bin. Ich. Du. Du bist. Du bist da. Du bist immer noch da.

Jeden Tag schließe ich einen neuen Vertrag mit dem Tag.

Wenn du, mein liebes Kind, weiteratmest, verdaust, ausscheidest, dann fange ich an besser für mich zu sorgen. Schritt für Schritt.

Jeder Tag eine neue kleine Aufgabe. Ich kämpfe darum, dass mein Gewicht wieder steigt, das ich mich nicht auflöse in meinem Kummer und meiner Sorge.

Jeden Tag eine neue kleine Challenge. Du bist so stark, in deiner stoischen Ruhe, Atemzug um Atemzug. Ich werde auch stark sein, dass ich dich überall hintragen kann, hinaus in die weite, weite Welt. Irgendwann. Irgendwie. Ich werde dich hochheben, wie Pippi Langstrumpf ihr Pferd. Werde bärenstark für dich sein.

Ich bin voller Trauer. Ich bin voller Hoffnung. Ich bin voller Liebe. Ich bin voller Angst. Ich bin voller Wut. Ich bin voller Verzweiflung. Ich bin voller Tränen. Ich bin voller Freude. Ich bin voller Mut. Ich bin voller Leere. Ich atme. Ich lebe. Du atmest. Du lebst.

Bitte atme weiter, damit ich dir, damit ich dir das Leben zeigen kann. Alles zeigen kann. Alles. Bitte bleib auf dieser Welt. Geh nicht fort.

Du bist geblieben, bis heute. Ganz anders, wie andere Kinder. Du bist immer du selbst geblieben. Du hast dich niemals von anderen verbiegen lassen.

An deinem 18. Geburtstag hast du dir gewünscht, dass ich fünf Lieder mit dir singe.

Ich habe dir alles gezeigt, was ich kenne, alles erzählt, was ich weiß.

Das größte Wunder meines Lebens bist du, mein Kind.

Du bist das, worüber ich mich am meisten wundere und du bist diejenige, ich am meisten bewundere.

Ich danke dir für jeden Atemzug.

Aus. Lauter. Liebe.

Mit. Aller. Trauer.

Vor Freude.

*Die Periduralanästhesie (PDA oder auch Epiduralanästhesie) ist ein Verfahren zur Betäubung von Rückenmarksnerven, z.B. zur Durchführung von Kaiserschnitten ohne Vollnarkose.

*PWS = Prader-Willi-Syndrom; mehr Infos unter www.prader-willi.de

 

 

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