Weiterleben

Laut sein als Frau

Ich bin eigentlich ziemlich leise. Manches Mal schon habe ich mich über mich selbst amüsiert, dass ausgerechnet ich für die „laute Trauer“ stehe. Manches Mal ist es mir schon passiert, dass Menschen sich mich ganz anders vorgestellt haben als ich in der Realität bin. Lauter eben.

Und dann muss „laut“ ja auch nicht immer wirklich laut sein. „Laut“ sein bedeutet für mich vor allem, dem, was ist, Ausdruck zu verleihen. Und nicht zu schweigen, wo Schweigen bedeutet, dass ich oder andere darunter leiden. Meine eigene Wahrheit zu sprechen ohne Anspruch darauf, dass sie allgemein gültig ist. „Laut“ sein heißt oft auch Grenzen setzen. Das ist manchmal gar nicht so einfach. Gerade als Frau. Das schreibt sich so einfach dahin, natürlich weiß ich gar nicht wie es als Mann ist. Als Frau jedenfalls war es lange Jahrhunderte sehr gefährlich, laut zu werden, sich zu zeigen, anderer Meinung zu sein, gehört werden zu wollen. Unser kollektives Bewusstsein hat das noch nicht vergessen, auch wenn sich die Zeiten äußerlich geändert haben.

Und während wir so von Gleichberechtigung sprechen und in einem Land leben, in dem Frauen zum Glück schon ziemlich große Schritte gegangen sind, schwingen all diese Erfahrungen weiter in unserem Bewusstsein mit. Erfahrungen von Unterdrückung, Abwertung, von Opfern und Tätern. Erfahrungen von Ausgrenzung, Machtmissbrauch, Abhängigkeit, Missbrauch und Verrat. All das ist natürlich keine einseitige Erfahrung, die nur von Frauen gemacht wurde. Und es sind auch keine Erfahrungen, die nur in der Vergangenheit liegen. Für mich geht es auch darum, langfristig aus Schuldzuweisungen auszusteigen und in die jeweilige Verantwortung zu gehen. Ich vermute allerdings, dass eine Auseinandersetzung mit dem, was war und ist, dazu gehört. Eine ganz ehrliche, eine, die nicht nur rational sondern vor allem auch auf der Gefühlsebene stattfindet. Ein Fühlen aller Gefühle, die damit verbunden sind, ein Heilen von womöglich uralten Wunden.

Ich erlebe auf diesem Weg, dass es manchmal gar nicht so leicht ist, gehört zu werden. Ich erinnere mich an mein Informatik-Studium und wie wir in einer Gruppe von vier Männern und zwei Frauen zum Lernen zusammen saßen. Während die Männer lautstark diskutierten, saßen wir beide oft zuhörend daneben. Und wenn es dann doch dringend etwas zu sagen gab, dann mussten wir schreien, um gehört zu werden. Nur um dann fragend angeschaut zu werden, was denn mit uns los sei, dass wir jetzt so „austicken“.

Das erzähle ich nicht als Anklage, sondern als ganz reales und zugleich banales Beispiel, wie anstrengend ich es manchmal erlebe, mich in dieser Welt mitzuteilen. Ich schreibe das nicht, um mich zu beschweren, um mit dem Finger auf „die Männer“ zu zeigen, sondern weil ich oft erlebt habe, dass viele Frauen ähnliche Erfahrungen machen. Dabei spüre ich auch, dass unsere Welt die weibliche Stimme braucht, um in Einklang zu kommen. Eine oft sanfte, leise Stimme, die häufig überhört wird.

Letztlich geht es nicht um Mann oder Frau, sondern um den Aspekt der Weiblichkeit, der in uns allen ist. So wie die Männlichkeit auch. Wir leben in einer Welt, die letzterer mehr Raum gibt, geradezu darauf ausgerichtet zu sein scheint. Kein Wunder also, wenn vieles nicht in Balance ist. Ich glaube, wir brauchen immer beide Seiten im Einklang miteinander, um im Frieden sein zu können. Im Kleinen wie im Großen. Also in uns selbst genauso wie in unserer Gesellschaft. Und das betrifft sowohl Frauen als auch Männer. Anfangen können wir immer nur bei uns selbst.

Es gibt viel zu sagen zu diesem Thema. In mir jedenfalls bewegt es viel, habe ich mich schon vor einiger Zeit auf diese Suche begeben. Die Suche nach dem Leben meiner eigenen Weiblichkeit genauso wie nach ihrer Rolle in der Welt. Eine Suche nach Einklang und Heilung zugleich. Im Kleinen wie im Großen.

Bisher habe ich oft gezögert. Weil es Angst macht, zu diesem Thema laut zu werden. Weil ich dachte, es passt nicht zu meinem Blog. Dabei ist es doch mein Blog und ich entscheide, worüber ich schreibe. Und dann gehört es auch zu meiner Trauer. Es ist das, wo mich das bewusste Zulassen und Fühlen von Trauer hingeführt hat. In immer mehr Fühlen. Ein Fühlen nicht nur aktueller Verluste oder Verletzungen, sondern auch von Verlusten und Verletzungen, die über Generationen hinweg getragen wurden. Ein Fühlen meiner Trauer über den Zustand unserer Erde. Vor kurzem habe ich passend dazu ein Interview gesehen, das mich sehr berührt hat. Darin wurde gesagt, dass ein Grund, warum wir Menschen so wenig gegen die Zerstörung der Welt tun, darin liegt, dass wir keine Trauerkultur haben. Denn wenn wir dort hinsehen wollen, wirklich hinsehen, dann gehört es dazu, alle Gefühle, die damit verbunden sind, fühlen zu können. Und mit Fühlen meine ich nicht darin verharren, sondern die Gefühle fließen lassen in all ihrer potentiellen Wucht, um wieder frei und handlungsfähig zu werden.

Mein Thema bleibt also im weitesten Sinne die Trauer. Das Fühlen der Gefühle. Und das Lautsein im Sinne davon, dass ich weiter meine Wahrheit aussprechen möchte. Ohne zu schreien. Lautsein mitunter ganz leise. Für die, die es hören können. Und ich werde gehört werden.

Ahey.

   
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