Sven Reusch schreibt über eine außergewöhnliche Art der Trauer: Er wurde Zeuge eines Suizids.
Es war ein ganz normaler Arbeitstag Anfang Juni. Durchwachsenes Sommerwetter, nichts besonderes. Die Arbeit war wie immer, nervig, stressig, anstrengend. Ich saß an meinem Arbeitsplatz, das Headset auf den Ohren und führte eines der ungefähr 80-100 Gespräche pro Tag. Wie die meisten Tage, zog sich dieser auch ziemlich, obwohl immer viel zu tun war. Während des Telefonats klickte ich mich mit der Maus durch das nötige Computerprogramm, als ich von draußen ein Geräusch hörte. Draußen, das war nicht weit weg, die Fenster waren etwa zwei Meter hinter mir. Das Geräusch klang irgendwie, als ob beim Bürohaus nebenan eine große Markise runter gekracht wäre. Das war schon ein erschreckendes Geräusch, solche Dinger sind ja ziemlich schwer.
Erschrocken, aber natürlich trotzdem auch neugierig, versuchte ich das Telefonat zu beenden, um schaulustig gucken zu können. Plötzlich hörte ich von der anderen Seite in unserem Großraumbüro hektische Handlungen und sogar hysterische Rufe wie „Ruf den Notruf“ und „Da is einer vom Turm gesprungen“. Ein dicker Kloß verstopfte auf einmal meine Kehle. Ich beendete das Gespräch sofort, riss mir das Headset vom Kopf und drehte mich wie ferngesteuert auf dem Drehstuhl zum Fenster rum und sprang auf. Sofort sah ich, was die hektischen Rufe ausgelöst hatte. Direkt vor dem Eingang des Büroturms nebenan lag ein junger Mann, vielleicht Ende 20, auf dem Rücken. Unter seinem Kopf sah man Blut. Er war gerade von einem der oberen Balkone des Turms gesprungen. Das Büro, in dem ich arbeitete, war im ersten Stock. Der Büroturm nebenan vielleicht 15 Meter entfernt. Das alles war sehr nah.
Unten gingen Passanten vorbei, sichtlich schockiert. Der Notarztwagen kam sehr schnell, doch es war zu spät. Der Mann war tot.
Es dauerte sehr lange, bis der Leichenwagen kam, zumindest gefühlt. Bei uns im Büro ging es ziemlich turbulent zu, einige standen wie üblich bei Unfällen oder schlimmen Ereignissen da und konnten die Augen nicht vom Geschehen draußen lassen, andere saßen schockiert da. Manche auch weinend. Ohne es wirklich bewusst steuern zu können, schaute ich auch immer mal wieder zu dem jungen Mann. Diesen Anblick werde ich wohl nie vergessen.
Die Trauer war fremd. Der Mann war ein Fremder. Ich hatte ein Gefühl, das ich nicht einordnen konnte. So eine Leere, eine Art unwirkliche Ohnmacht. Es war keine Trauer um einen geliebten Menschen oder einen Verlust, der mich persönlich direkt betraf. Die Trauer war wohl eher ein Schock. Dieses Bild vor Augen, wie er da lag. Seine Körperhaltung, seine Kleidung, seine Haarfarbe, das Blut. Eine Zeit lang war es sehr präsent, auch vor dem Einschlafen.
Es war eine Trauer, die mich lange sehr beeinflusst hat. Zu diesem Bild im Kopf natürlich auch immer wieder die Frage ohne Antwort – WARUM? Gut ein halbes Jahr, bevor dieser Suizid passierte, hatte sich Fußball-Nationaltorwart Robert Enke das Leben genommen. Diese Geschichte hatte mich schon sehr geschockt. Dieser Selbstmord hier, direkt vor meinen Augen, hatte das Thema nun erneut auf den Schirm gebracht..und auf ein ganz anderes Level. Die erste Zeit danach habe ich, wenn ich durch die Stadt gegangen bin, hoch geschaut. Hoch zu den oberen Balkonen oder den Dächern der Häuser. Ich wollte sichergehen, dass dort niemand stand und springen wollte.
Ein für mich positiver Punkt – im Nachhinein habe ich durch Zufall, aber aus absolut sicherer Quelle, etwas zur Geschichte des jungen Mannes erfahren. Das macht an der Geschichte selbst natürlich nichts besser oder weniger dramatisch und schlimm – aber es half mir, eine Schublade in meinem Kopf zu finden, wo ich dies „ablegen“ konnte. Außerdem war ich im Nachhinein immer froh über die Tatsache, dass ich nicht gesehen hatte, wie er gesprungen oder gefallen war, sondern „nur“, wie er da lag.
Immerhin – kurze Zeit nach diesem schlimmen Ereignis habe ich gekündigt. Es war für mich mit ein Auslöser zu verstehen, dass das Leben zu kurz ist, um jeden Tag acht Stunden etwas zu tun, das man schrecklich findet und das einen krank macht.

3 Comments
Das finde ich auch ein „interessantes“ Thema, hab eine zeitlang in der Suizidprävention gearbeitet. Und leider kommt das viel zu oft vor. Dein Text zeigt wie weit die Wellen schlagen und auch Menschen berühren kann die die Person gar nicht kannten.
Ja, das ist leider so. Es kommt viel zu oft vor. Die Wellen, die es dann schlägt, bei Menschen, die unfreiwillig Zeuge werden, sind wie bei so vielem sehr unterschiedlich. Als ich damals in meinem Umfeld davon erzählt habe, bekam ich auch die verschiedensten Reaktionen. Ich glaube bis heute, und aktuell durch diesen Beitrag hier erneut, dass niemand in meinem Umfeld überhaupt auch nur im Ansatz eine Idee davon hat, wie mich dieser Suizid damals bewegt hat. Aber das ist wohl auch nicht außergewöhnlich.
Ich hoffe sehr das Aktionen wie diese hier mit den vielen Texten die Menschen auch ein bisschen öffnen für das erleben ihres Umfeldes.. naja zumindest die die veränderndes erlebt haben oder selber schon mal einen Prozess durchgegangen sind können sich etwas mehr einfühlen.