Das Fenster

Alle reden über Trauer 2019

Anonyme Verfasserin

Montag bis Freitag…das sind in der Regel die Wochentage, an denen ich hier vorbei fahre. Hier – damit ist das Tumorzentrum gemeint. Ein neu gebautes Haus mit riesigen Eckfenstern mit Blick auf die Kreuzung. Und da steh ich nun. Die Ampel ist mal wieder rot und hat mich zum Halten gezwungen. Mein Herz schlägt plötzlich schneller und ich blicke zu dem Fenster. Und ich sehe ein leere Liege. Vor mehr als einem Jahr hätte ich dich zumindest an 2 bis 3 Tagen alle 2 Wochen dort am Fenster gesehen. Wenn Du Chemotherapie hattest, hattest Du Dir immer die Liege an dem Fenster geben lassen und dann Ausschau nach mir gehalten, wie ich auf dem Weg zur Arbeit an der Kreuzung halten musste. Wenn wir uns dann erblickt hatten, hatten wir uns gewunken und einen Kuss zugeworfen. Mein Herz schlug dann immer Purzelbäume. Das hatten wir über ein Jahr so praktiziert, dann hatte dich dieser verdammte Krebs besiegt. Und wenn ich nun heute an dieser Kreuzung stehe, schaue ich trotzdem zum Fenster. Dann bin ich traurig und so muss ich fast täglich, wenn ich zur Arbeit oder wieder nach Hause fahre, weinen….

Andre & Ich

Ich denke ganz oft daran, wie wir uns eigentlich kennengelernt hatten. Wir hatten uns im Internet gefunden, auf Facebook in einem Singleportal. Ich hatte ihn gefunden. Ich war schon länger Single und hatte ab und an dort nachgeschaut. Und dann hatte ich ihn gefunden. Er hieß Andre, hatte total sympathisch ausgesehen und seine Einstellung und Hobbys gefielen mir sofort, also schrieb ich ihm. Anfangs hatten wir nur zaghaft und recht sporadisch Kontakt, doch nach 2 Wochen schrieben wir recht regelmäßig, bis wir uns endlich verabredeten. Ich wählte einen Park in dem Wohnort von Freunden aus, dort wollte ich ohnehin am 10.9.16 zu der Veranstaltung „Kunst im Park“ fahren und mich abends mit meinen Freunden treffen. Andre und ich verabredeten uns für ca 15 Uhr auf dem Parkplatz. Er wohnte gar nicht so weit weg und so war er pünktlich da. Ich kam ein paar Minuten später. Da stand er schon mit einem kleinen Strauß Rosen in der einen Hand und einem Gurkenglas Wasser in der anderen Hand und begrüßte mich. Die Idee mit dem Glas Wasser fand ich so toll. Während unseres Aufenthaltes im Park konnte ich so die Rosen im Auto ins Wasser stellen. Wir gingen spazieren, tranken Kaffee, saßen auf einer Bank und wir redeten und redeten und vergaßen völlig die Zeit. Plötzlich rief mich meine Freundin an und fragte, ob denn alles in Ordnung sei. Ich war total überrascht, dass es schon nach 20 Uhr war. Wir hatten die Zeit total vergessen. Nun wollte ich mich mit meinen Freunden auf der Veranstaltung treffen. Daher gingen wir zurück zu unseren Autos. Ich war etwas traurig, dass unser Date schon zu Ende sein sollte, ihm schien es genauso zu gehen. Ich fragte ihn, ob er nicht noch mit zu „Kunst im Park“ mitkommen möchte. Er sagte zu, und so fuhren wir mit unseren Autos zu dem anderen Park, in dem die Veranstaltung statt fand. Dort lernte er meine Freunde kennen, dann sahen wir uns die ausgestellten Kunstobjekte an, später noch eine tolle Lasershow. Wir saßen nebeneinander und er hatte seinen Arm um meine Schulter gelegt. Es war ein sehr schöner Abend. Ich hatte dann die Nacht bei meinen Freunden geschlafen. Am nächsten Morgen schrieben wir uns wieder Nachrichten und so kam es, dass wir uns gleich wieder verabredeten. Wir trafen uns gegen 11 Uhr an einem Badesee. Es war für Mitte September viel zu heiß und daher war der Strand ziemlich voll. Aber wir fanden dann eine ruhige Ecke und machten es uns gemütlich. Die Zeit verging wieder rasend schnell. Es waren 2 wundervolle Tage, im Nachhinein hatten wir scherzhaft festgestellt, dass das eigentlich 5 Dates an 2 Tagen waren. Wir hatten uns einfach von Anfang an wohl miteinander gefühlt und es stand eigentlich schon fest, ohne dass wir es aussprechen mussten, dass wir gern ein Paar sein wollen. In der darauf folgenden Woche schrieben und telefonierten wir und er besuchte mich bei mir zu Hause. 2 Wochen später fuhren wir für eine Woche an die Ostsee und verbrachten dort eine wunderbare Zeit. Und ab dem Zeitpunkt waren wir täglich zusammen. Ich hätte nie gedacht, dass ich so einen wunderbaren Mann finden würde, der so liebevoll, hilfsbereit, zuvorkommend, humorvoll und aufmerksam ist….war. Es war eine wunderschöne Zeit mit ihm….wunderschön und gleichzeitig auch sehr traurig.

In den ersten Monaten unserer Beziehung setzte Andre seine Umschulung fort, im Januar, Februar 17 ging der Prüfungsstress los. Schon da bemerkte ich, dass es ihm gesundheitlich nicht so gut ging. Er aß wenig, viel zu wenig, hatte ab und an Bauchschmerzen, er nahm ab. Später kamen noch andere gesundheitliche Probleme dazu. Ich hatte ihn mehrfach gesagt, dass ich Angst habe, dass er eine schlimme Krankheit haben könnte und bat ihn zum Arzt zu gehen. Er sagte, dass sei nicht notwendig, er schob alles auf den Prüfungsstress. Nachdem er dann die Prüfungen geschafft hatte, bekam er gleich einen tollen Job. Die gesundheitlichen Probleme blieben, aber nun wollte er nicht zum Arzt gehen und seine Arbeit aufs Spiel setzen. Im April hatte er plötzlich einen Hexenschuss, er musste also endlich zum Arzt gehen. Sein Hausarzt war über seinen Anblick sehr erschrocken und checkte ihn komplett durch, schickte ihn weiter zu Fachärzten. Einige Tage später kam ich von der Arbeit nach Hause. Andre saß in der Küche. Wir begrüßten uns und er fing an zu weinen. Ich setzte mich, ahnte furchtbares. Er erzählte mir, dass er für längere Zeit ins Krankenhaus müsse, dass er Darmkrebs habe….und er weinte, weil seine größte Angst war, dass ich mich von ihm trennen würde. Ich weinte ebenfalls, nahm ihn in die Arme und sagte, dass ich das nicht vorhabe und wir den Krebs gemeinsam durchstehen würden. 2 Wochen später war er im Krankenhaus und wurde operiert, da wurde das ganze Ausmaß der Krebserkrankung bekannt. Der Tumor konnte nicht operativ entfernt werden, er war zu groß und hatte nicht nur Darm, sondern auch die Blase in Beschlag genommen. In der Leber hatten sich Metastasen gebildet. Es wurden ein Stoma und ein Zugang für die Chemotherapie gelegt. Im Krankenhaus und im Tumorzentrum, wo er sich nach Krankenhausentlassung meldete, erklärte man uns, dass man versuchen würde den Tumor mittels Chemo zu verkleinern und später zu entfernen. Man machte uns Hoffnungen.

Und so lebten wir weiter und hofften, die Chemos würden irgendwas bringen. Andre ging es gut in den Folgemonaten. Die Chemotherapie wirkte anfangs recht gut, der Tumor wurde kleiner. Trotz der Krankheit bemühte er sich, mir im Haushalt zu helfen, hat in Garage und Garten gearbeitet, renoviert, mich ganz oft mit einem Abendessen überrascht, mir Salat für die Arbeit zubereitet und und und…. Ich musste ihn oft bremsen, gerade wenn es um so schwere körperliche Sachen ging. Er sagte immer solange es ihm gut geht, wolle er auch helfen, wo er kann. Trotz Krankheit hatten wir eine so wunderbare Zeit, wir waren füreinander da und wir liebten uns. Wir waren auch noch zwei mal an der Ostsee, diese Zeit tat uns immer so gut. Wir sprachen oft vom Heiraten, wollten dies im Mai oder Juni 18 tun. Nicht groß, einfach nur schick anziehen, Standesamt, Mittagessen. Andre sagte immer, zum Mittagsschlaf wolle er wieder zu Hause sein. Wir hatten eigentlich kaum Streit, vielleicht 2 oder 3 mal. Ich mochte es allerdings nicht, dass er weiter rauchte und er war darüber manchmal genervt. Ab Januar 18 ging es ihm schlechter, die Schmerzen nahmen zu und er war häufig schlapp und müde. Aber er sagte immer, er würde kämpfen und so dachten wir nicht an ein Ende. Im April 2018 wurden seine Schmerzen unerträglich, er bekam Morphium.

Eines Tages erschrak ich, ich stand früh auf und ich sah wie er sich vor Schmerzen krümmte. Ich wollte bei ihm zu Hause bleiben, doch er wollte, dass ich auf Arbeit fahre. Er mochte es nicht, wenn ich ihn in dem Zustand sah. Das wollte er nie, weil er wusste, wie sehr mich das belastete, wenn ich ihm nicht helfen konnte. Aber am nächsten Tag ließ ich mich nicht so einfach wegschicken. Ich machte mir riesige Sorgen, weil er so durcheinander war. Ich holte den Notarzt. Sie nahmen Andre mit ins Krankenhaus. Beim Einsteigen in den Krankenwagen stellte er fest, dass seine Zigaretten nicht in der Jackentasche waren. Ich sagte, dass ich diese, sowie alles andere aus der Jacke raus genommen hatte. Er wurde etwas böse mit mir. Ich hatte ihm die Zigaretten dann geholt und der Krankenwagen fuhr mit ihm ab. Es gab keine nette Verabschiedung, er schien genervt von allem zu sein. Ich sollte 2 h später anrufen und nach dem Stand der Dinge fragen. Das tat ich. Man hatte mich jedoch vertröstet, es würde noch kein Ergebnis vorliegen. Nach  6 h erhielt ich einen Anruf, ich solle bitte in die Notaufnahme kommen. Den Anruf tätigte Andre. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass es die letzten vernünftigen Worte von ihm sein würden. Er bat mich die Unterlagen von seiner letzten OP mitzubringen. Ich war völlig fertig mit den Nerven, fuhr sofort los. In der Notaufnahme angekommen, kam ich in das Untersuchungszimmer. 2 Schwestern verließen umgehend den Raum. Der Arzt blieb. Da lag er, mein Andre, geistig abwesend, kaum ansprechbar, vermutlich vollgepumpt mit Schmerzmitteln. Als ich ihn ansah, sagte er er müsse auf die Toilette. Aber er hatte einen Blasenkatheder. Der Arzt hatte ihn trotzdem gehen lassen. Dann sagte mir der Arzt, die Untersuchungen hätten ergeben, dass sich im noch gesunden Teil des Darmes ein neuer Tumor gebildet hatte, außerdem hatte der Darm Risse. Dadurch lief der Darminhalt in den Bauchraum. Man könne versuchen, ihn zu operieren, die Ärzte dort im Klinikum würden es jedoch aufgrund seines schlechten Zustandes ablehnen. Er sagte eine OP würde er höchstwahrscheinlich nicht überleben. Und würde man nicht operieren, würde er noch maximal 6 Tage leben. Er würde an einer Blutvergiftung sterben. Ich saß völlig geschockt da, brach in Tränen aus. Eine der Schwestern kam und nahm mich in den Arm. Nach einigen Minuten raffte ich mich auf, wollte Andre suchen. Er war noch auf der Toilette. Also setzte ich mich davor auf den Fußboden. Der Arzt kam zu mir, setzte sich neben mich, versuchte mich zu beruhigen und erklärte mir noch einmal alles in Ruhe. Irgendwann gingen wir zusammen wieder ins Behandlungszimmer zurück. Mit Andre konnte ich gar nicht reden. Es schien mir auch ein bisschen, als wäre er etwas abweisend zu mir, er behandelte mich, als wäre ich gar nicht da. Vielleicht wollte er nicht, dass ich sehe, dass es ihm schlecht geht. Das wollte er immer vor mir verbergen. Oder war er noch böse auf mich wegen der dämlichen Zigaretten, die ich ihm nicht eingepackt hatte. Ich weiß es nicht… Abends um 10 brachte man uns dann auf die Palliativstation. Dort angekommen, ging Andre wieder trotz Blasenkatheder auf die Toilette. Irgendwann holte ich ihn von der Toilette und brachte ihn zum Bett. Dort schlief er recht bald ein. Ich bin nachts nach Hause gefahren und früh gleich wieder ins Krankenhaus. Zwischenzeitlich hatte ich seine Mutti, den Stiefvater, seine Großeltern, und seine Kinder über die Exfrau informiert. Alle waren nun unterwegs ins Krankenhaus. Andre war kaum ansprechbar. Ich glaube der Besuch der ganzen Leute hatte ihn ziemlich geschafft, aber ich denke es war trotzdem richtig. In dieser Zeit, als alle da waren, sind einige merkwürdige Dinge zum Thema Exfrau vorgefallen, aber das möchte ich an dieser Stelle nicht ausweiten.  Als dann alle weg waren, war ich mit ihm allein. Er hatte dann nicht mehr geredet bzw. nur kurzes Unverständliches von sich gegeben. Ich konnte nichts weiter tun, außer ihn ab und zu mit Wasserfruchteis zu füttern und ihm die Hand zu halten. Ich merkte, wie sehr er kämpfte, aber gleichzeitig spürte ich auch seine Angst und ich sprach mit ihm, dass er gehen dürfe. Ich wollte einfach nicht, dass er noch weiter leiden muss. Ich weiß noch, dass ich ihn auch küsste und er den Kuss erwiderte. Abends bat ich den Vater meines Sohnes, meinen Sohn ins Krankenhaus zu bringen. Ich denke der Schritt war richtig. Andre und er waren zwar manchmal wie Katz und Maus, aber mochten sich. Mein Sohn weinte, als er ihn sah. Andre drehte den Kopf zu ihm und seine Mundwinkel gingen nach unten. Wir konnten nur vermuten, was er damit äußern wollte. Mein Sohn wurde dann wieder abgeholt. Diese Nacht blieb ich bei Andre. Am nächsten Morgen bemerkte ich, dass die Schwestern nach dem Puls messen nicht mehr alle Schläuche anschlossen. Ich setzte mich ans Bett, und er suchte mit seiner Hand meine Hand. Ich denke, er spürte, dass das Ende kam und er hatte wahnsinnige Angst davor. Ich war froh, dass ich bei ihm war und einfach nur an seiner Seite sein konnte. Halb 12 fiel mir plötzlich ein, dass mein Auto seit früh um 8 ohne Parkticket vor dem Krankenhaus stand. Ich gab der Ärztin und der Schwester Bescheid, dass ich schnell zum Auto wollte. Bevor ich ging, schaute ich nochmal in das Zimmer rein und sah, wie Andre atmete. Ich beeilte mich, war 5 Minuten später am Auto und musste dann feststellen, dass in 20 Minuten parken frei für den Rest des Sonntags galt. Also eilte ich zurück, doch als ich ins Zimmer kam, bemerkte ich, dass sich Andres Brustkorb nicht mehr hob und senkte. Er war eingeschlafen. Vielleicht hatte er bemerkt, dass ich doch nicht loslassen konnte oder wollte es mit sich allein ausmachen.

Er war nicht mehr am Leben und für mich begannen dann die schlimmsten Monate meines Lebens….

   
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2 Antworten

  1. Liebe unbekannte Verfasserin, ich schicke dir ganz ganz viel Liebe und bedanke mich bei Dir für deinen Mut deinen Text hier einzureichen. Meine Mutter ist an Darmkrebs verstorben und ich habe sehr lange mir Ihrem Verlust gekämpft, bis ein Satz mich gefunden hat, den ich dir gerne mitgeben möchte: Was bleibt, ist Deine Liebe. Deine Liebe zu Andre und Eure wunderschöne Liebesgeschichte ist beim lesen noch immer zu spüren. Ich schicke dir ganz viel Licht und Liebe und umarme dich virtuell. Deine Irene

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