Hast du schon mal einen Baum umarmt?

Was für eine Frage. Vor einiger Zeit hätte ich dich noch leicht verständnislos angeschaut, mit sowas wie „Äh…“ geantwortet und dich in die Kategorie „Vorsicht, spinnt etwas, lieber nicht zu nahe kommen“ eingeordnet. Heute habe ich einen Lieblingsbaum, mit dem ich mich sehr verbunden fühle. Ich ziehe immer wieder sehr viel Kraft und Ruhe aus den Begegnungen mit ihm und er hat viel dazu beigetragen, dass ich hier angefangen habe zu schreiben und bis jetzt nicht wieder aufgehört habe.

Baum umarmenBis vor gut drei Jahren habe ich noch mitten in Frankfurt, mitten in der Stadt gewohnt. Ich dachte, dort gehöre ich hin, es ist doch auch so praktisch, wenn alle Geschäfte und alles, was ich so brauche, gleich um die Ecke sind. So viele spannende Restaurants und Aktivitäten, die es da zu entdecken gibt. Nach wie vor mag ich das vielfältige Angebot der Stadt. Aber mit das wichtigste, das ich brauche, gibt es dort wo ich gewohnt habe nicht so nah: die Natur. Und ja, ganz konkret meinen Baum. Wenn ich ganz ehrlich bin kostet es mich ein klein wenig Überwindung, aber heute möchte ich mich hier für dich gerne als Baumumarmerin „outen“. Ein Teil von mir fürchtet, du könntest mich nun für ziemlich verrückt halten und mir als Blogleser/in verloren gehen, doch der andere wünscht sich sehr, dass du diese mögliche Kraftquelle, die Natur, ebenfalls für dich entdecken kannst oder vielleicht längst entdeckt hast.

In der Natur kann ich durchatmen, kann ich einfach sein und mich selbst spüren. Früher war ich auch ganz gerne mal draußen, das schon. Ich habe aber nicht bemerkt, wie schön die Wolken sind und wie sie wirklich jeden Tag anders aussehen. Ich habe nicht gemerkt, wie viel Leben in einem kleinen Stück Wiese steckt, wie perfekt aufeinander abgestimmt die Abläufe in der Natur sind. Wie erstarrt alles im Winter ist und wie viel Energie der Frühling auf einmal wieder bereithält. Wie spürbar das Wasser und die Energie wieder durch den Baumstamm nach oben in die Krone gepumpt werden. Wie auf Kommando beschließen jedes Jahr wieder die Bäume zu blühen in all ihrer wunderbaren Vielfalt. Kein Baum würde je daran denken, seine Blüten für schlechtere Zeiten aufzuheben oder lieber erstmal noch vorsichtig zu sein, man weiß ja nie was kommt.

Und das beste ist: Wir sind Teil dieser Natur, wir existieren nicht getrennt davon, auch wenn wir uns noch so sehr von ihr entfernen und vielleicht verstecken in unseren zivilisierten, sauberen Häusern. In der Natur dürfen wir uns ganz zuhause, ganz willkommen fühlen. Hast du schon einmal ganz bewusst gefühlt wie sich verschiedene Baumrinden anfühlen, wie sich das Gras an deinen Händen anfühlt wenn du darüber streichst? Ist dir schon einmal aufgefallen, wie laut und kraftvoll die Vögel am Morgen singen? Wenn dir das Umarmen von Bäumen doch ein bisschen zu abgedreht ist, kannst du vielleicht damit anfangen. Gehe einmal ganz bewusst in die Natur. Ohne Ablenkung, ohne irgendein Ziel, ohne irgendwo konkret hinzuwollen damit. Begib dich einfach in die Natur und erfahre, erspüre, was sie dir heute zeigen möchte, was heute dort auf dich wartet.

Gerade in der Trauer, dann wenn alles auseinander fällt, nichts mehr so ist wie es einmal war, kann die Natur eine große Kraftquelle sein. Während so vieles um uns herum zerbricht und endet und scheinbar nie wieder ganz oder gut werden kann, geht die Sonne einfach jeden Morgen von Neuem wieder auf, singen die Vögel weiterhin ihre Lieder, nimmt der Mond mal ab, nur um nach seinem Verschwinden wieder zuzunehmen und ganz voll zu werden. Werden und Vergehen, diesen ewigen Kreislauf können wir in der Natur beobachten.

Zugegebenermaßen, in der ersten Zeit nach Julians Tod habe ich daraus keine Kraft ziehen können. Im Gegenteil: die Sonne schien mich zu verhöhnen mit ihrem unaufhörlichen Scheinen. Wie kann sie einfach so tun als wäre nichts gewesen? Regen passte da schon besser zu meinen Gefühlen, der Wechsel der Jahreszeiten machte mir jedoch allzu schmerzhaft bewusst, wie lange Julian nun schon tot war und wie das Leben und die Zeit einfach unerbittlich weitergingen. Anfangs war es mir unmöglich, das Schöne darin zu erkennen. Irgendwann konnte ich es zumindest denken und vom Verstand her erfassen, dass die Natur vielleicht doch schön ist. Bis ich es wirklich fühlen konnte, verging ungefähr ein Jahr. Nur die Wolken, die hatten für mich von Anfang an eine ganz besondere Bedeutung. Zuvor waren sie einfach nur Dinge, die am Himmel herumschweben und womöglich für Regen sorgen oder einfach die Sonne verdecken. Erst seit Julians Tod ist mir aufgefallen, wie viele verschiedene Wolkenformen es gibt und wie viel es darin zu entdecken gibt.

Was anfangs eine Qual und ein Hohn zu sein schien, bekam später etwas sehr beruhigendes für mich. Egal was passiert, die Erde dreht sich weiter, die Sonne geht weiter auf und das Leben nimmt seinen Lauf. In der Natur kann ich nicht nur diesen Kreislauf beobachten und mich darin geborgen fühlen, ich kann auch Julian dort ganz besonders nahe sein. Vielleicht war es das, was mich ursprünglich dazu bewegt hat, mehr und öfter in die Natur zu gehen. In den vorbeiziehenden Wolken, dem Rauschen des Flusses und dem Rascheln der Blätter im Wind konnte ich ihn finden. Dort konnte ich seine leise Stimme hören, dort konnte ich auch mit ihm sprechen, dort sind mir immer wieder kleine Zeichen von ihm begegnet. Auf der Suche nach diesen Zeichen, nach ihm, schließlich auch nach mir selbst hat es mich immer wieder in die Natur gezogen.

Wie ist es für dich? Gehst du viel in die Natur? Empfindest du sie eher als hilfreich oder sogar heilsam in deiner Trauer oder bringt es dir vielleicht gar nichts, in die Natur zu gehen? Ich freue mich auf deine Kommentare!

11 Gedanken zu „Hast du schon mal einen Baum umarmt?“

  1. Liebe Silke,
    dein Artikel hat mich sehr berührt! So einen großen Verlust hatte ich – bisher – noch nicht zu verarbeiten, aber die Natur als Kraftquelle war für mich auch schon immer sehr wichtig. Und ja: ich bin auch eine Bäume-Umarmerin und Erde-Umarmerin und Mit-Bäumen-Rederin 🙂
    Ich schicke dir liebe Grüße + wünsche dir viele, viele weitere kraftvolle Begegnungen mit Bäumen, Gras, Wolken, Wind, Sonne, Katzen, Vögeln, Käfern, Erde, …. <3
    Andrea

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  2. Liebe Silke,
    ich sitze gerade unter einer wunderschönen Linde und lese deine Zeilen. Dieser Baum ist ein ganz besonderer. Vor 11 Monaten ist unsere Tochter, nach nur zwei Tagen in dieser Welt, verstorben. Nun möchten wir ihr zu ihrem ersten Geburtstag einen Baum widmen!
    Ein Baum als Symbol für all die wundervollen Dinge die aus ihrem so kurzen Leben erwachsen sind! Als Symbol für das verwurzelt sein in uns, und in ihr!
    Danke für deine Offenheit, für dein ‚lautes‘ trauern! Viele deiner Gedanken sind schon in mein Herz gefallen!
    Danke dafür, alles liebe. Lena

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    • Liebe Lena,
      oh wie schön, dass du von deinem Platz an der Linde aus liest und den Kommentar geschrieben hast ♥
      Was für eine wundervolle Idee mit dem Baum für eure Tochter, so berührend.
      Danke dir für deine lieben Worte!
      Alles Liebe auch für dich
      Silke

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  3. Liebe Silke,
    auch ich habe einen ganz besonderen Baum, „meinen“ Baum, den ich fast täglich besuche. Als ich vor ca. drei Jahren im Wald spazieren ging, sah ich ihn und hab mich sofort „verliebt“, ich wusste einfach, das ist „mein“ Baum, unter tausend Bäumen dieser eine. Damals war ich längere Zeit krank, vom späteren großen Verlust in meinem Leben ahnte ich noch nichts. Aus der traditionellen chinesischen Medizin wusste ich, dass die Natur ganz allgemein und besonders Bäume eine heilende Energie an uns Menschen abgeben. Bäume symbolisieren das Element Holz und das Element Holz steht für den Frühling als Jahreszeit und emotional als Neubeginn, auch Wandlung im Leben. Ich ging, seitdem ich das alles wusste, jeden Tag zu „meinem“ Baum, an ihn gelehnt empfand ich eine fantastische Ruhe und Gelassenheit, er war stark, einfach nur da und hat zugehört. Ich dachte damals, jetzt werde ich komplett verrückt und spreche schon mit Bäumen… Aber er hat mir auf seine Weise zu verstehen gegeben „alles ok, ich höre zu…“. Langsam kam meine Lebenskraft zurück – natürlich auch mit der richtigen weiteren Medizin 🙂 -, wir wurden „Freunde“. Dann war ich längere Zeit an einem anderen Ort, hatte auch dort den einen oder anderen Baum, aber es war anders. Nach meinem Verlust, zwei Tage später, bin ich zu meinem Baum zurückgekehrt, an ihn gelehnt sind alle Dämme gebrochen, ich war völlig verzweifelt, er hat mich ausgehalten. Seitdem besuche ich ihn wieder fast täglich und werde jedes Mal ganz ruhig und so gelassen wie es am jeweiligen Tag eben möglich ist. Er strahlt eine unglaubliche Kraft und Stärke aus und kann wunderbar zuhören, zum Abschied sage ich immer „wir hören uns morgen“, leider kann er mir dann nicht zunicken :-). Ich hab deswegen nicht aufgehört, mit Menschen zu sprechen, er kommt aber als wichtige weitere Ressource dazu. Mittlerweile stört es mich auch nicht mehr, wenn ab und zu mal ein Mensch vorbeikommt, und ich stehe da und umarme meinen Baum. Manchmal winke ich den Menschen dann kurz und schenke ihnen ein Lächeln, bisher hat noch keiner nicht zurückgelächelt.
    Liebe Grüße zu dir,
    es ist sehr berührend, wie oft du Dinge aussprichst, die mich sehr bewegen,
    Conny

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    • Oh wie berührend, liebe Conny! Danke dir vielmals, dass du deine Geschichte mit deinem lieben Baum hier teilst. So schön, dass ich Tränen in den Augen hatte beim Lesen. Auch weil ich so dankbar dafür bin, dass ich ähnliches mit „meinem“ Baum erlebe. Es tut unglaublich gut, sich einfach anlehnen zu können, alles sagen und auch fragen zu dürfen und dann auf eine ganz wunderbare Art Antworten dafür zu erhalten. Du schreibst „Freunde“ in Anführungszeichen, ich glaube wir können wirklich Freunde mit Tieren, Bäumen, Lebewesen werden, es entsteht eine tiefe Verbindung wenn wir uns nur darauf einlassen. Dann ist jeder Baum auf seine Art besonders, aber nur mit diesem einen Baum haben wir diese ganz tiefe Verbundenheit, diese wunderbare Freundschaft. Auch auf die Gefahr hin, dass andere uns für verrückt halten 🙂
      Liebe Grüße zurück
      Silke

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  4. Liebe Silke,
    ja klar habe ich. Doch der Tod hat mich angestoßen es intensiver zu tun. Meine Frau hat die Blumen, die Bäume, die Schmetterlinge und Hummeln, und was sonst noch schön in der Natur ist, geliebt. Ich habe es wahr genommen, aber nie so intensiv wie jetzt. Jetzt, nach der Zeit, streichle ich auch die Rinde der Bäume, die Blätter der Sträucher und Gräser und rieche an den Blumen. Erst jetzt verstehe ich, was meine Frau empfunden hat und es ist schön. Warum braucht es so einen schrecklichen Schicksalsschlag, damit sich einem alle Sinne öffnen. Das Leben ist zu kurz um nur einen Moment dieses Genusses und der Freude nicht zu erleben.
    Manchmal schauen die Menschen komisch wenn ich wieder einmal gedankenversunken an Blumen rieche, aber ich bin eben verrückt.
    Ich wünsche mir, dass Deine Artikel weiter so tiefgründig und ehrlich bleiben. Danke.
    Gruß Andreas

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    • Lieber Andreas,
      danke dir für deinen Kommentar! Es ist eine gute Frage .. wieso braucht es so einen Schlag, damit sich die Sinne öffnen. Deine Frau hat dir ja gezeigt, dass es nicht unbedingt nötig ist – sie wusste es ja bereits vorher. Und doch ist es oft so, dass wir erst nach einem Schicksalsschlag anfangen richtig hinzusehen, die Dinge anders wahrzunehmen, das Leben anders und neu begreifen.
      Ich bin jedenfalls gerne verrückt, wenn das verrückt sein bedeutet.
      Danke für deine lieben Worte, ich freue mich, dass dir meine Artikel gefallen.
      Viele Grüße
      Silke

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  5. Bäume sind einfach unglaublich gut für meine Seele. Sie stehen einfach d und „machen ihr Ding“! In der Nähe von Bäumen fühle ich mich beschützt. Sie sind anständig, ehrlich, gütig, geduldig, verlässlich, sie trösten, sie verlangsamen, fordern nichts … Während ich so schreibe, fällt mir auf, Bäume haben viele Eigenschaften mit meiner Frau gemein.

    Unser Friedhof hat wunderschöne, unterschiedliche Bäume. Weil Uschi und ich die Liebe zu Bäumen geteilt haben, waren wir oft da zum Spazierengehen. Noch zwei Monate vor Ihrem Tod waren wir an einem sehr schönen Herbsttag da und haben uns auch darüber unterhalten wie wir es mit unserem Begräbnis mal halten wollen und uns gegenseitig Versprechen abgenommen, wenn es mal bei uns soweit ist. Tja, zwei Monate später musste ich dann mein Versprechen einlösen.

    Manche Bäume muss ich einfach anfassen. Sie „sprechen“ mich an.

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  6. „Raus“ in die Natur. Rein in das eigentliche Wunder dieser blauen Kugel. So wie es (fast) unberührt von der Natur gesteuert wird. Das was der Mensch aus dem Gleichgewicht gebracht hat, Beton, totes Material das Leben der Natur vertrieben hat. Bäume sind Lebewesen, mit der TerraX Serie über deren Leben mehr bewusst geworden, die wichtig im Kreislauf des Lebens sind.
    Jeder Bau würde über den Termindruck in unserem menschlichen Leben mehr als schmunzeln… Die Laubbäume haben Ihren Rhytmus, jedes Jahr. Sie nehmen sich die Zeit und das Umfeld so wie es ist.
    Jeder Betroffene sucht sich seinn Rückzugsort. Und jeder tut das was seiner Seele gut tut. Bäume sind glaube ich ein gutes Medium um das Ungleichgewicht in uns, zwischen Körper und Seele, wieder in Einklang zu bringen. Genau wie das Meer. Wellenrauschen, aufgewühlte See und dann wieder wie ein Spiegel glatt und ruhig.
    Wir hier jetzt in dem anderen Leben. Wir sind immer noch wir, halt nur mit dem Ungleichgewicht in uns. Dadurch kostet es alles etwas mehr Kraft, da in uns immer etwas dagegen tut. Aber wir finden zur Einheit zurück. Auch für unsere verstorbenen. Sie nehmen an unserem Leben weiter teil und möchten auch wieder gute Zeiten erleben. Wenn wir zufrieden sind, sind sie es auch.
    In dem Sinne, bewusst gesund und zufrieden bleiben!

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