Verlassen – Von uns selbst und anderen

Wie wir uns selbst verlassen

„[..] Sie werden da sein. Und sie werden tanzen. Denn sie haben nur einen Wunsch: den Wunsch, dass man sich an sie erinnert. Wenn du ihrer auch nur für einen kurzen Moment auf ehrliche Weise in Liebe gedenkst, machst du sie glücklich.
Bedenke: Die nächste Welt ist nicht weiter von dir entfernt als die Länge deines Armes. Die Toten sind immer da. Sie schauen immerzu auf uns. Wir sind diejenigen, die nicht wissen, wie wir sie ansehen können. Wir wissen nicht, wie wir sie berühren können. Doch in der Tiefe deines Geistes weißt du, dass sie nicht weiter entfernt von dir sind als das Buch, das du in Händen hältst.“

Aus: “Schmelzt das Eis in euren Herzen! Aufruf zu einem geistigen Klimawandel (Angaangaq – der Schamane aus Grönland, Christoph Quarch, Hrsg.)”

Wenn ein Mensch stirbt erleben wir oft Verzweiflung, Hilflosigkeit, Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Wir fühlen uns verlassen. Von unserem geliebten Menschen, vielleicht von Gott oder der Welt im Allgemeinen. Es scheint so ungerecht: Wieso musste er gehen, wieso musste sie uns verlassen, wieso bleiben wir alleine zurück? Je mehr ich mich mit dem Tod beschäftige, desto mehr begreife ich: Die Menschen, die vor uns sterben, verlassen uns nicht wirklich. Sie sind immer da, wenn auch in einer anderen Dimension, in einer anderen Welt und anders als wir es uns wünschen würden. Selbst wenn wir nicht an ein Weiterleben oder Existieren über den Tod hinaus glauben, so bleiben die Verstorbenen doch in unseren Erinnerungen, in unseren Herzen. Sie können einen sicheren Platz in uns haben.

Verlassen tun wir uns selbst – und zwar bereits bevor ein geliebter Mensch stirbt. Wir leben so entfernt voneinander, wir verschließen unsere Türen und Herzen, weil wir denken, dass wir selbstständig sein müssten, frei und unabhängig, stark und ungebunden. In unserer Gesellschaft ist jeder für sein eigenes Glück verantwortlich und zugleich wissen wir doch gar nicht wie das geht mit diesem Glück. Wenn es uns schlecht geht – und das geht es uns wenn ein geliebter Mensch stirbt -, dann sind wir oft ungeduldig oder sogar richtig hart mit uns selbst. Wir verlangen von uns, dass wir weiter funktionieren, dass wir uns nicht so anstellen, dass es uns schnell wieder gut geht. Das kann doch nicht so lange dauern mit der Trauer, denken wir. Es muss doch jetzt wirklich wieder aufwärts gehen, wir können doch nicht Wochen, Monate oder gar Jahre lang weinen, “schwach” sein und uns aus dem Leben zurückziehen. Wir müssen uns zusammenreißen, das macht man nunmal so, und unser Leben wieder in den Griff bekommen. Wie das geht wissen wir nicht so genau, aber wir setzen uns selbst damit unter Druck. So verlassen wir uns selbst in einer Zeit, in der wir doch eigentlich vor allem liebevolles Mitgefühl bräuchten, um heilen zu können.

Auch gegenseitig verlassen wir uns. Wir rücken auseinander, achten auf unsere Grenzen und grenzen uns dabei gegenseitig aus. Wir sagen, dass wir uns nicht so lange mit den Problemen anderer belasten dürfen, das zieht uns doch nur mit runter. Wir verlangen von unseren Mitmenschen, dass sie ihr Leid so schnell wie möglich in den Griff bekommen oder wenigstens still für sich alleine ausmachen. Ein bisschen möchten wir schon da sein, aber lieber nicht zu lange. Das Leben muss doch weitergehen, wir müssen doch nach vorne schauen. So streben wir alle nach Glück und möchten zugleich Leid vermeiden. Doch was ist Glück? Entsteht Glück in der Entfernung zu anderen Menschen? Entsteht Glück wenn wir an uns denken und lieber einen Schritt zur Seite gehen, den anderen in seinem Leid sitzenlassen, vielleicht die Straßenseite wechseln wenn er uns entgegen kommt? Entsteht Glück in oberflächlichen Beziehungen, die wir wechseln wenn sie uns zu anstrengend werden? Oder kann es sein, dass Glück entsteht wenn wir einander berühren? Wenn wir füreinander da sind, uns halten und lieben, auch wenn es zugleich bedeutet, dass wir vielleicht in unserem eigenen Schmerz berührt werden durch den Schmerz des anderen?

Es ist die Liebe, von der wir uns in Wahrheit verlassen fühlen. Die Liebe zu uns selbst und die Liebe zueinander. Vielleicht haben wir auch das Gefühl, wir dürften die Liebe zu unserem Verstorbenen nun nicht mehr zulassen, haben sie mit ihm verloren. So reißt der Tod eine riesige Lücke in unser Leben und lässt uns in einem großen Scherbenhaufen zurück. Verlassen, verzweifelt und voller Angst. Wenn wir es schaffen, in all diesem Unglück die Liebe wiederzuentdecken, dann ist darin eine große Chance, ein großes Geschenk vergraben. Hier kann ich wieder nur von mir selbst sprechen: Je klarer mir wurde, dass zwar Julian nicht mehr als Mensch an meiner Seite sein würde, ich aber die Liebe zu ihm nicht hergeben muss, je mehr ich dieser Liebe vertrauen und sie in mir selbst weiter nähren konnte, desto erträglicher wurde meine Trauer. Das hieß nicht, dass ich nicht mehr traurig war, es hieß aber, dass die Traurigkeit etwas von ihrer Verzweiflung verlor. Über diese Liebe zu Julian durfte ich lernen, auch mich selbst mehr und mehr zu lieben. Es ist ein stetiger Prozess und ich bin sicher nicht “fertig” damit. Wenn es mir schlecht geht, dann versuche ich, mir selbst mit Liebe zu begegnen statt mit Härte und Ungeduld. Anstatt mich selbst noch zusätzlich zu schlagen und mir zu sagen, dass ich schwach und blöd bin, es einfach nicht hinkriege und es in der Welt so niemals zu etwas bringen werde, versuche ich mich liebevoll in den Arm zu nehmen. Ich mache mir einen Tee, kuschele mich in meine Lieblingsdecke und sage mir, dass es okay ist, dass es mir heute nicht gut geht. Ich begegne mir selbst mit Mitgefühl. So wie ich auch einer lieben Freundin begegnen würde. Aus dieser Liebe heraus kann ich dem Tod ins Auge blicken, kann ich ihm auf Augenhöhe begegnen.

„Ihr Menschen in der westlichen Welt habt das verlernt. Ihr unternehmt, was ihr nur könnt, um dem Tod nicht ins Antlitz blicken zu müssen. Weil ihr euch so sehr vor dem Tod ängstigt, gebt ihr Milliarden Euro oder Dollar aus, um am Leben zu bleiben. Ihr habt eine ganze Welt aufgerichtet, um dem Tod auszuweichen. Ist das nicht verrückt? Sagt das nicht alles über die Begrenztheit eurer Kultur? Ihr habt verlernt, die Schönheit der Sterbenden zu sehen. Und so habt ihr verlernt, das Leben als ein Fest zu feiern. Bedenke: Das Leben ist eine Zeremonie – wert, mit einer Zeremonie gefeiert zu werden. Auch angesichts des Todes.“

Aus: “Schmelzt das Eis in euren Herzen! Aufruf zu einem geistigen Klimawandel (Angaangaq – der Schamane aus Grönland, Christoph Quarch, Hrsg.)”

 

In dem zitierten Buch von Angaangaq, dem Schamanen und Ältesten aus Grönland, finden sich Weisheiten über das Leben im Einklang mit der Natur und mit uns selbst. Das Buch hat mich sehr inspiriert und nachdenklich gemacht. Nicht nur darüber, wie wir der Trauer und dem Tod begegnen oder wie wir unseren Verstorbenen gedenken wollen, sondern ganz allgemein wie wir als Menschen miteinander und mit unserer Heimat, der Erde, umgehen wollen. Wenn du dich ebenfalls auf der Suche nach einem größeren Sinn, nach einer höheren Weisheit befindest, kann ich dir das Buch sehr empfehlen. Lass dich inspirieren und teile deine Gedanken hier, wenn du möchtest. Natürlich auch wenn du das Buch nicht liest – Ich freue mich wie immer über deine Kommentare.

 

 

   
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6 Antworten

    1. Und was sagst du dir selbst, liebe Petra? Was wissen die, die das sagen, denn schon wirklich?
      Danke dir für deinen Kommentar. Ich habe eben ein bisschen auf deinem Blog gestöbert und bin ganz berührt davon. Danke, dass du dich „voller Worte“ mitteilst.

  1. Das ist nun ein Gegenbesuch und …..wow was für ein Blog. Du schreibst wirklich sehr schön und kommst ganz klar in meine Leseliste. Deinen Input mit der besten Freundin hab ich übrigens in meine „Einfach zum Nachdenken“ Notizen gepackt. Vielen Dank dafür. Liebe Grüße

    1. Ich freue mich, dass du vorbeischaust, liebe Rianna! Danke dir für dein liebes Feedback, ich freue mich sehr darüber.
      Liebe Grüße zurück und wir lesen uns 🙂

  2. Liebe Silke,
    gerade heut habe ich zu einer lieben Freundin gesagt, dass ich mir selbst eine gute Freundin sein möchte,
    eine die mich aufbaut, mir zur Seite steht, so wie mir mein Mann, der auch mein bester Freund war, zur Seite gestanden hat.

    Danke, wieder einmal für diese guten “ Gedankenstösse“ … > die Liebe nicht hergeben, sondern weiter nähren…< Ja! In diese Richtung will ich weiterfühlen … denn unsere Liebe bestand ja nicht aus Trauer…

    Liebe Abendgrüße

  3. Hallo Silke,
    ich weiß nicht. Verlassen von mir fühle ich mich in der Trauer nicht, vielleicht weil diese Gefühle und Gedanken schon früh ein Teil von mir waren, auch ohne dass ich es klar als Trauer bezeichnet hätte. Es gehört zu mir, das ist ein Teil meiner Geschichte.
    Verlassen von anderen fühle ich mich auch nicht, es ist eher so, dass ich sogar froh um diesen Abstand bin und überhaupt nicht glauben kann, dass Trauer etwas ist, was man so teilen kann. Ich rede nur selten über meine Schwester, und wenn, dann sehe ich diese Unsicherheit von den Leuten. Sie wissen nicht was sie sagen sollen und sie gucken komisch und sie wollen nicht das falsche sagen und sie fühlen sich nicht wohl. Und die Unsicherheit und die Hilflosigkeit strahlt aus ihnen heraus, dass ich es kaum aushalten kann. Selbst ich weiß gar nicht, was sie sagen sollen oder was sie tun sollen oder wie sie gucken sollen. Wie soll das dann erst jemand wissen, der nicht diese Erfahrungen gemacht hat?
    Vielleicht kommt mir auch vieles falsch vor, weil nichts macht meine Schwester wieder lebendig und vielleicht ist das auch eine Beziehung, die nicht für alle nachvollziehbar ist.

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