So viele Verluste – Ist einer nicht genug?

Verluste

Ein Mensch stirbt. Und so viel geht verloren. Mit ihm, durch ihn, um ihn herum und in uns. Ich habe irgendwo einmal den Begriff der „Sekundärverluste“ gelesen. Zunächst ist da dieser eine, große Verlust des geliebten Menschen. Es tut weh, dass er nicht mehr da ist. Es ist anfangs absolut unbegreiflich, dass er wirklich nicht wiederkommen wird. Ein Teil von uns weiß es vielleicht schon, aber der Rest steht fassungslos da und will es nicht wahrhaben. Dieser Tod, dieser große Verlust, überschattet erst einmal alles. Und das ist okay, auch wenn es so wehtut. Menschen sagen uns dann, dass das Leben doch weitergeht, weitergehen muss. Sie sagen uns, dass er doch immer in unserem Herzen sein wird. Doch oft ist ihnen und auch uns selbst gar nicht bewusst, was alles an diesem großen Verlust dranhängt, welche weiteren Verluste damit verbunden sind. Sekundär heißt hier nicht, dass sie zweitrangig und womöglich zu vernachlässigen sind, sondern einfach nur, dass sie als Folge nach dem ersten, großen Verlust auftreten.

Es ist natürlich ganz individuell und unterschiedlich, welche Auswirkungen der Tod eines Menschen auf unser Leben hat. Ich halte es für wichtig, auch diesen „Sekundärverlusten“ Raum zu geben. Sie anzuerkennen als etwas, mit dem wir noch zusätzlich umgehen lernen müssen. Das können Freunde und Bekannte sein, von denen wir uns entfernen oder die sich zurückziehen, manchmal ist es auch der Job, das Haus, die finanzielle Sicherheit. Wir verlieren gemeinsame Hobbys, gemeinsame Orte, die gemeinsame Zukunft, das gemeinsame Zuhause. Wir verlieren Träume und Hoffnungen und oft auch den Glauben an das Leben, an uns selbst oder an Gott. Oft ist es ein Verlust der eigenen Identität, der mit dem Verlust eines lieben Menschen einhergeht. Wer bin ich nun ohne dich? Wer bin ich, wenn das, woran ich bisher geglaubt habe, vielleicht nicht mehr wahr ist?

So vieles liegt in Scherben und anfangs können wir vielleicht nur versuchen, mit all den Scherben irgendwie weiter zu gehen oder eben erstmal „nur“ zu existieren. Im Laufe der Zeit können wir dann ganz vorsichtig eine Scherbe nach der anderen aufheben, betrachten und schauen, was sich damit noch anfangen lässt. Wie bei einem Haus, das zusammengestürzt ist, können wir nachsehen, welche Bauteile noch verwendet werden können, wo etwas Neues eingebaut und etwas Altes herausgenommen werden muss. So entsteht im Laufe der Zeit ein neues Haus, basierend auf dem Alten. Und das geht nur, indem wir es ausprobieren. Wie sonst sollen wir herausfinden, welche Bauteile heute noch passend sind, welche Verluste wirklich bleiben und welche scheinbar verlorenen Dinge doch wieder – auf neue Art – Teil unseres Lebens sein können? Für mich ist mit Julian unter anderem meine Leidenschaft für das Reisen mit gestorben. Erst einige Jahre vor seinem Tod hatte ich sie entdeckt, war das erste Mal aus Europa raus und nach Asien gereist. Ich hatte es geliebt, mit meinem Rucksack auf dem Rücken neue Länder und Kulturen zu entdecken. Ich hatte mein Leben danach ausgerichtet, möglichst viel Zeit mit dem Reisen verbringen zu können. So war ich ja auch nach Nepal gekommen, wo er schließlich bei unserem gemeinsamen Aufenthalt dort einfach so starb. Und so hatte sich das Reisen für mich ebenfalls erledigt. Wie hätte ich noch mit dieser Freude in die Welt reisen können? Schließlich war es das Reisen gewesen, das ihn mir auf eine Art genommen hatte. Es war einfach zu stark verknüpft mit seinem Tod, als dass ich irgendetwas Schönes, wieder Erstrebenswertes darin hätte sehen können. Und auch daran hingen weitere Dinge. Ein Jahr zuvor noch war ich so glücklich darüber gewesen, einen Job im IT-Bereich der Reisebranche zu finden. Wie sollte ich es nun ertragen, dass es hier jeden Tag um Reisen ging, um andere Menschen, die wunderbare Zeiten im Ausland verbrachten – ohne, dass jemand starb? Ich verlor meine Reiselust, meinen Job und noch so viel mehr.

Ich schaffte es zwar, nach seinem Tod dort wieder nach Nepal zu reisen. Diese Besuche waren jedoch etwas anderes. Wirklich wieder raus in die Welt zu gehen, diese entdecken zu wollen, einfach des Reisens willen in andere Länder zu fliegen, das konnte ich mir weiterhin nicht vorstellen. Und doch schlummerte dieser Funke irgendwo tief in mir. Erst dieses Jahr im April habe ich das erste Mal wieder für eine Woche einfach nur Urlaub gemacht, nur für mich. Erst jetzt kann ich mir vorstellen, dass es mich auch mal wieder für eine größere Reise, vielleicht für längere Zeit ins Ausland ziehen könnte. Momentan ist es noch nicht dran und ich vermisse es auch nicht, aber ich spüre, dass es nach wie vor in mir ist.

Es ist nur ein Beispiel. Und ich möchte damit sagen: Du bist damit nicht alleine, wenn du das Gefühl hast, nach und nach zerbricht noch so viel mehr und wenn du nicht weißt, wie du mit all diesen Verlusten klarkommen sollst. Verluste vielleicht, die von außen gar nicht so wahrnehmbar sind. Vielleicht fragst du dich sogar selbst, warum du nicht einfach weitermachst wie vorher, warum du es dir so schwer machst. Es war ein Teil meiner Identität vor Julians Tod zu reisen. Und auch der fehlte nun. Was sollte stattdessen kommen? Ich wusste es nicht. Manchmal zeigt sich dann etwas ganz Neues, manchmal sind scheinbare Sekundärverluste dann doch nicht ganz dauerhaft. In jedem Fall brauchen auch sie Zeit und Aufmerksamkeit, ein liebevolles Annehmen dessen, was ist.

Wie erlebst du diese sekundären Verluste? Was hast du zusätzlich zu deinem geliebten Menschen verloren und wie gehst du damit um? Schreibe mir gerne in den Kommentaren. Ich freue mich auch immer über Mails von dir, auch wenn ich es nicht immer schaffe, zu antworten. In jedem Fall lese ich alles, was du mir schreibst.

Zum Ende meines Artikels habe ich mich auch daran erinnert, wo ich diesen Begriff gelesen hatte. Hier findest du den englischen Artikel zum Thema: Secondary Loss — one loss isn’t enough??!!

Meine ganze Geschichte, in der ich meinen Weg durch diese ganzen Verluste, durch die Trauer und mit der Suche nach mir selbst beschreibe, gibt es ab 10. November als Buch:

   

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7 Antworten

  1. Liebe Silke,
    hiermit möchte ich einfach mal DANKE sagen.
    Ich „sauge“ jeden neuen Beitrag von dir auf und mit jedem sprichst du mir aus dem Herzen. Manchmal möchte ich dann einen Kommentar schreiben, aber es ist ja schon alles mit deinen Worten gesagt.
    Es verwundert mich immer wieder, wie ähnlich Trauer verläuft, obwohl wir alle und auch all unsere Beziehungen zu den Verstorbene doch so verschieden sind und waren.
    Mir hilft es ungemein, dass ich nicht allein bin mit diesem Schmerz und diesen Gefühlen.
    Das wollte ich dir einfach mal schreiben 🙂
    Ganz liebe Grüße zu dir
    Sabine

  2. Liebe Silke,
    in diesem Monat wird es ein Jahr das meine Frau gestorben ist.
    Ich habe heute, der erste Tag nach dem Urlaub, ein Mittagsessen für meine Kolleginnen und Kollegen gegeben. Nicht wegen meinem Geburtstag, der auch vor wenigen Tagen war, sondern als Dankeschön. Danke für die Unterstützung und die Geduld in der letzten Zeit und ganz besonders für das letzte Jahr. Danke dafür, dass sie mich ausgehalten haben und trotzdem für mich da waren.
    Ich habe oben geschrieben nach meinem Urlaub. Ich habe das ganze Jahr meinen Jahresurlaub vor mir hergeschoben. Ich hatte eine Unlust, oder aber es war Angst. Aber die letzten zwei Wochen im Oktober habe ich das erste Drittel in Angriff genommen. In den zehn Tagen habe ich Orte besucht, wo meine Frau und ich gerne waren. Freunde haben gefragt, warum ich mir das antue, aber es hat gut getan und mir ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Ich habe gespürt, dass Erinnerungen nicht mehr immer wehtun.
    Ich möchte ganz bewusst das erleben was wir Beide erlebt haben und uns darüber gefreut haben. Und ich möchte dabei, und auch sonst Neues kennen lernen.
    Was ich seit dem Tod von Ilona überhaupt nicht mehr kann, den Tatort im Fernsehen ansehen. Aber ich empfinde das nicht als sekundären Verlust.
    Ich bin heute Single (verwitwet), genau wie vor der Zeit mit meiner Frau, aber eben um ganz viele Erfahrungen und sehr schöne Momente reicher. Keinen davon möchte ich missen.
    Vielleicht ist in den Augen vieler Menschen ein Jahr zu wenig um die Dinge so zu sehen und zu erleben wie ich es tue. Aber das ich heute so Denke und so Handel wie ich es tue, bedeutet überhaupt nicht das ich meine Frau nicht liebe. Im Gegenteil! Sie fehlt mir ganz sehr im jetzigen Leben.
    Grüße Andreas

  3. Liebe Silke,

    zunächst einmal ein großes Kompliment für diese großartige Seite!

    Du zeigst hier, was auch ich empfinde: Schreiben hilft, klärt und hält Erinnerungen fest.
    Ich habe im Juli meine Schwester und 1 Jahr zuvor meinen Vater verloren. 2 unbeschreibliche Verluste für mein jetziges Leben, meine Zukunft und auch meine Vergangenheit.

    Meine sekundären Verluste sind gelebte Geschichten. Viele Dinge aus der Vergangenheit, an die man sich selbst nicht mehr erinnert, flackern wieder auf, wenn sie jemand anderes erzählt. Kleine Anekdoten aus der Kindheit, die so kostbar sind. Wunderbare Weißt-du-noch-Geschichten, die kurz wieder lebendig werden. Viele davon sind einfach gelöscht worden.
    Auch die Pläne, die meine Schwester und ich für die Zukunft geschmiedet hatten, werden niemals zu Geschichten, die wir irgendwann erzählen können.

    Ich habe weitaus mehr verloren als 2 liebste Menschen!

    Danke, dass ich das hierher schreiben durfte.

    Herzliche Grüße,
    Karin

  4. Liebe Silke,
    vor einigen Stunden habe ich deinen Blog entdeckt und bin erstaunt und berührt über dein großes Talent und deine „Weisheit“, Trauer und die damit verbundenen Themen in Worte zu fassen. Ein Schatz!
    Vor fast zwei Jahren habe ich meinen lieben Lebenspartner durch plötzlichen Herztod verloren. Ich war tief berührt von den Parallelen. Er war 51. Auch zu früh, wenn man das Ganze anders geplant hatte. Er ist nach einem normalen Tag in meinen Armen gestorben. Einfach so. Auch ich habe von Anfang an alle Gefühle aufgeschrieben, um diesen Super-Gau irgendwie zu verarbeiten. Nur für mich. Nur für ihn.
    Ja. Die Leichtigkeit ist weg. Dafür mehr Tiefe entstanden. Wir werden nie wieder die sein, die wir am Morgen des besagten Tages waren, als von einem Moment auf den anderen alles anders wurde.
    Und ja: es ist nicht nur der Verlust dieses geliebten Menschen. Es ist der Verlust der Zweisamkeit, der Verlust unserer Träume und Pläne, der Verlust gemeinsamer Freunde, der Verlust des gemeinsamen Reisens… wir liebten Griechenland. In 2017 machte ich mich allein auf… und besuchte eine Insel, auf der wir viele schöne Stunden erlebt hatten. Ich dachte, ich sei stark genug, in der Pension, in der Taverne allein an einem Tisch zu sitzen… allein Wanderungen zu unternehmen. Allein am Strand entlang zu spazieren, den
    Sonnenuntergang bestaunen. ABER: Außer mir gab es auf der ganzen Insel offensichtlich nur Paare. Wo waren die anderen Singles? Zuhause auf dem Balkon? Dennoch war es eine gute Reise. Ich musste das so abschließen. Reich belohnt mit tiefen Erfahrungen konnte ich wieder in den Flieger steigen.
    Sehr gut gelungen finde ich den Vergleich mit dem zusammengestürzten Haus. Schauen wir, wo noch Substanz vorhanden ist, wo ein neues Fundament gelegt werden kann. Wo noch brauchbares Material da ist, um ein neues Lebenshaus zu bauen. Na ja. Soweit die Theorie…
    Ganz liebe Grüße von Andrea

  5. Danke für deinen Beitrag. Nun habe ich endlich einen Begriff für diese Verluste, die sich aus dem einen ersten, großen Verlust ergeben. Nun wird es etwas greifbarer. Danke.

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