Ich werde nie mehr die Alte sein (und das ist gut so)

Verwandlung

Gestern habe ich darüber geschrieben, dass es dir nach dem Tod deines geliebten Menschen nicht schnell wieder gut gehen muss, auch wenn dein Umfeld das womöglich erwartet. Häufig ist an diese Erwartung noch etwas anderes geknüpft: Du sollst bitte wieder ganz die oder der Alte werden, ganz der Mensch, der du vor dem Verlust warst. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen: Das geht gar nicht.

Die alte Silke, also die, die ich vor Julians Tod war, war sich nicht bewusst darüber, dass wirklich Menschen einfach so viel zu jung sterben können. Die alte Silke dachte, so etwas passiert wenn dann nur anderen. Sie dachte, mit sowas muss sie sich nicht auseinandersetzen. Die alte Silke glaubte an nichts und war fest davon überzeugt, dass sie ihr Leben immer selbst im Griff hat. Dass sie egal was kommt immer selbst etwas tun könnte. Unpassende Jobs kann man kündigen, aus blöden Wohnungen wieder ausziehen, destruktive Beziehungen beenden.

Dann kam der Tod.

Von der einen Sekunde auf die nächste stand alles Kopf. Scheinbar nichts von dem, was früher richtig war, schien noch wahr. Julian starb und mit ihm ging mein bisheriges Weltbild in die Brüche. Ich konnte schreien, toben, weinen, betteln, mich auf den Kopf stellen, egal was ich tat, der Tod blieb bei seiner Entscheidung. Der Tod lässt sich nicht umkehren. In einer solchen Ausnahmesituation, angesichts eines Schicksalsschlags wie diesem, werden wir auf uns selbst zurückgeworfen. Viele Muster, die wir uns angeeignet haben, um mit den alltäglichen Herausforderungen umzugehen, funktionieren hier nicht mehr. Und alles ist in Frage gestellt.

Wie also sollen wir aus einer so tief erschütternden Situation heraus einfach wieder “die Alten” werden? Es geht nicht. Nicht nur mein Umfeld, sondern auch ich selbst wollte das zunächst nicht wahrhaben. Zwar habe ich gespürt, dass etwas in mir zerbrochen ist, dass ich nie mehr so unbeschwert wie zuvor sein würde, und dennoch habe ich eine Weile lang versucht, wenigstens so zu tun als wäre ich noch halbwegs die, die ich vorher war. Doch irgendwann musste ich schmerzlich feststellen: Das bin ich jetzt nicht mehr. Meine Werte, Glaubenssätze, Überzeugungen, alles stand in Frage.

Lange Zeit fühlte ich mich verloren, ich wusste nicht mehr, wer ich bin.

Wer bin ich ohne Julian, wer bin ich, wenn ich das Leben nun anders sehe als zuvor? Und irgendwann auch die Frage: Wer bin ich, wenn ich nicht mehr trauere?  Ich durfte mich selbst neu kennenlernen. Dazu gehörte auch, dass ich mir eine ganze Weile lang selbst sehr fremd war. Ich wusste nicht mehr, was mich ausmacht, was mir vielleicht Spaß bereiten könnte, ob ich alte Hobbys nur temporär oder nie mehr ausüben würde, wer und was zu mir passte und wo ich hingehörte. Dinge, die früher Teil meines Lebens waren, empfand ich auf einmal als anstrengend und schwer. Gesprächsthemen, die ich früher interessant gefunden hatte, wurden belanglos und mir fiel nichts mehr ein, was ich dazu hätte sagen können. Immer mehr wuchs in mir das Bedürfnis, meiner inneren Veränderung auch im Außen Ausdruck zu verleihen.

Mittlerweile kann ich der Tatsache, dass ich nie mehr die Alte werde, aus tiefer Überzeugung ein “und das ist auch gut so” hinzufügen. Ich möchte nicht mehr die alte Silke sein. Ich finde es absolut angemessen, dass mich Julians Tod verändert hat. Wie komisch wäre das, wenn sich dadurch gar nichts in mir geändert hätte. Das wäre ja, als hätte es ihn nie gegeben, als hätte er gar keine Bedeutung in meinem Leben gehabt. Und es würde auch bedeuten, dass ich zwar den Tod kurz gesehen, dann aber schnell wieder die Augen verschlossen hätte. Ich bin eine neue Silke und das ist gut so. Viele Erfahrungen, Begegnungen und ganz allgemein die tiefe Auseinandersetzung mit dem Tod und dem Leben haben mich so bereichert, dass ich nichts davon wieder hergeben möchte. Ich glaube, ich muss nicht dazu sagen, dass das natürlich nicht bedeutet, dass Julians Tod in irgendeiner Weise gut war, aber es bedeutet durchaus, dass Gutes daraus entstehen durfte.

 

Wie ist es bei dir? Erwartet dein Umfeld, dass du wieder wie vorher wirst? Wie gehst du damit und mit deiner eigenen Veränderung um? Ich bin gespannt auf deine Kommentare.

 

Foto: pixabay

 

   
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8 Antworten

  1. Liebe Silke, mal wieder wunderbar geschrieben! Die Veränderung in meinem Leben habe ich genauso erlebt. Nichts schien mehr an seinem Platz zu sein, mein Leben war ein einziges Chaos. Und in der ersten Zeit konnte ich mir auch überhaupt nicht vorstellen, dass ich jemals wieder ein ’normales‘ Leben haben würde. Jeder Gedanke drehte sich um meine Tochter und alles andere war Lichtjahre weit weg. Ich fühlte mich, als hätte ich Watte im Kopf und die Umwelt nahm ich nur wie durch eine Milchglasscheibe wahr.
    Als ich wieder zurück fand, hatte sich vieles geändert. Auch mein Freundeskreis ist heute nicht mehr der gleiche wie zuvor. Oberflächliche Gespräche sind mir unerträglich. Ja, ich bin ein anderer Mensch. Mit mehr Tiefe, mehr gelebter Spiritualität, mit mehr Liebe – Selbstliebe und auch Liebe zu anderen. Ich traue meinem Bauchgefühl viel mehr und auch mein Vertrauen ins Leben ist gewachsen. Ja, auch ich sage: ich bin eine andere und das ist gut so!

  2. Liebe Silke,

    ja, es funktioniert nicht „die Alte“ zu sein oder wieder zu werden. Es kann auch gar nicht funktionieren, weil dazwischen Erfahrungen liegen die so prägend sind wie nichts sonst im Leben- Endlichkeit der wir nicht entkommen können.

    Ich selbst habe mich sehr verändert, mich regen viele Dinge gar nicht mehr auf und ich reagiere sehr viel entspannter. Auch äußerlich habe ich mich verändert, ich trage völlig andere Kleidung und ich habe mein langen Haaren abgeschnitten. Neulich sprach ich mit einer Freundin darüber einem ehemaligen Kollegen begegnet zu sein, er hatte mich offenbar nicht erkannt und sie meinte: ich glaube, wenn ich es nicht wüsste, ich würde dich auch nicht wieder erkennen, du bist völlig anders als früher! Dazu habe ich 10kg abgenommen, was interessiert die Umwelt? Wie hast du das gemacht, nach welcher Methode? Nach welcher Methode, in solchen Momenten erscheint mir das Leben verdammt morbide und skurril….

    Lange Zeit konnte ich nichts, außer einfach weitermachen, irgendwie und einfach oben bleiben. Bloß nicht zu viel spüren, weil ich wusste es wäre einfach unerträglich, wenn ich mich meinen Gefühlen auf einmal aussetze. Ganz langsam wurde mein Kopf freier und damit kam auch meine Energie wieder Zukunftspläne zu schmieden. Nichts, gar nichts kann diesen Sommertag ungeschehen machen und nichts kann dieses Gefühl tief empfundener Verzweiflung wegmachen, es gehört zu uns wie die Luft zum atmen- es wird bleiben, bis ans Ende unserer Tage! Das Leben ist so sehr zerbrechlich, ich wusste das vorher aus meinem Beruf und jetzt weiß ich es auch aus eigener Betroffenheit, ich höre viel eher zu und ich sage sehr viel öfter „Ich verstehe Sie!“.

    Was ich beobachte ist, ich scheine besonders vertrauenswürdig zu sein, es passiert mir sehr oft das Menschen mit mir über Themen sprechen die sie tief zu berühren scheinen und es sind definitiv Themen über die man nicht mit „jedem“ spricht…

    Danke für deinen Texte der letzten Tage! Bist du noch in Nepal?

    LG

  3. Fast 16 Monate ist es her und ich erstarre in manchen Momenten immer noch. Ich streichle seine Bilder beim vorbeigehen, ich heule bei rührseliger Musik, ich reisse mich zusammen, wenn es unpassend ist.
    Ich gehe auch wieder ab und an weg – aber irgendwie ist er „präsent“ und ich denke oft an ihn.

    Aber ich denke auch oft nicht an ihn. Ich lache und amüsiere mich – denn auch das bin ich.

    Den Verlust werde ich nie ganz verkraften – dafür waren wir zu lange zusammen. Aber ich kann etwas dafür tun, dass er mich nicht auffrisst.

  4. Liebe Silke, Du hast mir einige Male schon geantwortet und ich möchte Dir gerne eine Rückmeldung geben, wie einfühlsam und klar Du mir antwortest. Du wirkst über Deine Worte und bringst mir damit Erleichterung. Für mich sind Worte auch ein kraftvolles Mittel, um in Kontakt zu kommen, deshalb habe ich heute was gewagt. Ich habe meinen Partner vor 3 Jahren plötzlich verloren, wie ich auch meinen Vater schon als junge Frau plötzlich verloren habe. Auch ein Freund ist vor 1,5 Jahren sehr überraschend gestorben. Durch diesen Schmerz und Schock, dem ich mich immer wieder unvermittelt stellen musste, habe ich erst richtig meine Lebendigkeit entwickelt: ich habe gelernt, sanft mit mir zu sein – mich weich zu berühren (nicht sexuell), zu summen, nach dem Aufwachen schon tief zu atmen und meinen Atem mit den Händen auf dem Bauch zu begleiten und genauso mal laut zu schreien, zu tanzen bis ich völlig ausser Atem bin, Saxophon zu spielen – alles, damit mein Atem fliesst und ich nicht versteinere in dem Schmerz und dem Verlust. Ich habe diese Fähigkeit: an großem Verlust nicht zu zerbrechen, sondern daran zu wachsen, zu meinem Beruf gemacht als Psychotherapeutin und Supervisorin in der Hospizarbeit.
    Jetzt habe ich einen nächsten Schritt gewagt. Ich habe eine Kontaktanzeige geschaltet. Weil ich weiss, dass meine Ansprüche gestiegen sind an einen zukünftigen Partner durch mein eigenes Wachstum, habe ich die Anzeige so formuliert, dass sie hoffentlich schon die Männer abschreckt, die an Oberflächlichem interessiert sind und den passenden anzieht. Ich schreibe sie Euch und bitte Euch, dass Ihr mir die Daumen drückt, wenn Ihr es mögt.
    „Interessante, schlanke Frau (54Jahre, 1,80m groß) sucht einen wachen Mann, der an einem persönlichen Austausch interessiert ist. Ich bin eine Herausforderung, nicht sexuell, nicht finanziell, sondern persönlich“.

  5. Wow… Danke für Deine Worte liebe Silke… Ich sitze hier und mit kommen die Tränen. Weil ich mit fühle.
    Ja da hat sich ordentlich was bewegt, auch in mir und im Außen, nach dem Selbstmord meines Vaters…
    Ein Teil in mir ist gestorben. Der Teil, der immer versucht hat seine Fassade aufrecht zu erhalten und zu kämpfen um irgendwie für alle alles gut zu machen und gut zu sein.
    Wow zum Glück… Es ist gerade so ein tiefes Gefühl von Demut in mir… Ich sehe das Große Ganze. Das alles darf so sein. Auch wenn es mit dem menschlichen Verstand nicht nachzuvollziehen ist…
    Meine ganze Vergangenheit hat mich zurück zu mir gewandelt… Zur Demut, zum sein ohne Maskerade.. Mehr und mehr.

    Danke liebe Silke dass es Dich und Deine Geschichte gibt ❤🎁💐
    Du bist ein Geschenk.

    Alles Liebe und einen kraftvollen Tag
    wünsche ich Dir♡

  6. Du schreibst mir so sehr aus der Seele!! Wunderschön, traurig und zugleich schön, realistisch und zugleich mit großer Zuversicht und Stärke beschrieben! Ich habe auch lange versucht, wieder „die Alte“ zu werden, die Partyqueen mit ewig lustigen Sprüchen auf den Lippen… es ging nicht. Als ich das eingesehen habe, brach die nächste Welt zusammen. Ich musste mich auch von meinem früheren Ich verabschieden. Dann begann die Suche – und sie dauert noch immer! Langsam komme ich hinter eines der großen Geheimnisse des Lebens… ich bin nicht „Witwe“, ich bin nicht Alleinerziehende“, ich bin nicht „die Traurige“ oder die aufgesetzt Lustige“, nicht die „Draufgängerin“ oder „Individualistin“. Ich bin von all dem was – Aber vor allem bin ich eins: ICH BIN. Ich hoffe, diese Erkenntnis, erreicht bald die letzte Zelle, denn dann darf ich nur noch sein… 😊
    Ich danke Dir für Deine offenen, vertrauten Worte! Deine Blogs sind sehr aufbauend!!

  7. Auch meinerseits DANKE, liebe Silke,
    DASS du schreibst und DASS du UNS hier „ermunterst“ (ein gutes Wort hier in unserer Lebensänderung) , uns auszutauschen.
    Bin ich eine andere?
    Ja und nein natürlich.
    WIE bin ich? Oder eher: WIE bin ich?
    Was ich realisiere: ich bin Menschen scheu geworden. Und das als sogenannte „Rheinische Frohnatur“. Ich mag nicht antworten auf ein überschwänglich fröhliches „Hallo Ute, alles klaaar?“ Da bekomme ich Gänsehaut angesichts solch einer Fragestellung. NICHTS IST MEHR KLAR!
    ABER: ich fühle mich der Kostbarkeit des Lebens verpflichtet und lebe MEIN Leben. Nicht etwa das, was mein Eheliebster von mir vielleicht erwartet haben könnte! NEIN! Aber eines, was im Einklang zu sein scheint, mit dem, was er an mir geschätzt hat. DAS auszubauen, MICH zu finden.
    Das ist Veränderung.
    Denn nun bin ich nur mehr ich – und nicht mehr Teil eines „wir“.
    Aber in der Liebe fühle ich das „wir“.
    Wunderbar!

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